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Sonntag, 14. April 2024

Gedankenexperimente aus tausend und einer Seite (Teil 17)

 1958: Große dampfende Wolken ziehen in der Dunkelheit da oben vorüber; dadurch kommt mir zum Bewusstsein, dass der Planet, auf dem Wir leben, wirklich existiert.

Jack Kerouac (1922-1969), amerikanischer Autor der Beat Generation[1]

 

Der Prozess...

und das Ende der kritischen Vernunft

 Von Raimund Vollmer 

 

Meine Damen und Herren. Es ist Montag, 2. September 1974. Ort des Geschehens ist Düsseldorf, Königsallee.

Endlich im Olymp. Endlich auf der Königsallee, der Champs-Elysées Düsseldorfs, zwar nicht auf der Promenadenseite, sondern gegenüber, auf der Schattenseite, da, wo die Großbanken ihren dunklen Geschäften nachgingen, dort war in einem Gründerzeitgebäude im ersten Stock die Zentralredaktion der WZ Düsseldorfer Nachrichten. 14 Monate Mönchengladbach lagen hinter mir. Ich war Teil des kollektiven Nachrichten-Prozesses geworden. Das Leben aus dem Ticker, die Tag und Nacht ratterten. Heute hört man sie nicht mehr. Heute kommen sie lautlos herein - und formen einen Nachrichtenfluss,  der uns inzwischen auf allen Kanälen umspült. Tag und Nacht. Jetzt. Jetzt. Jetzt. Unaufhörlich. Wir sind nur noch damit beschäftigt, die Welt zu codieren - in Nullen und Einsen, aus denen dann irgendetwas entsteht, das bereits in der nächsten Nachricht vergeht. 

Es gibt kein Halten mehr - nicht wie damals, wenn um 18.00 Uhr sich die Tageschau aus Hamburg erstmals in das Geschehen einschaltete und uns sagte, was heute das Wichtigste sei. Danach entstand in der Königsalle die Seite 1, der Aufmacher. Unwiderruflich. Und am nächsten Tag lasen die Leute das, was sie am Abend vorher im Fernsehen gesehen und gehört hatten. So wollten sie es. Wer davon abwich, verlor seine Leser. Wir wollten Zeit, um kritische Vernunft walten zu lassen. 

Doch nun herrscht der Prozess. Es ist Sonntag, 14. April 2024.

Hinter dem Denken in Prozessen steht das weite, alles überlagernde Feld der instrumentellen Vernunft. Sie „steht stets hoch im Kurs“, meinte 1974 Gerd Haffmans, damals Cheflektor des Diogenes-Verlags in Zürich, „die kritische Vernunft zielt auf die Substanz und wird verdrängt“.[2] Endgültig.

Die instrumentelle Vernunft manifestiert sich in der Technik – bis in unsere Sprache hinein, die sie voll und ganz auf ihre Seite zieht – selbstverständlich in einem langen und somit kaum spürbaren Prozess, in der Entwicklung der Sprachbilder. „Staaten wurden zu Maschinen, Menschen zu Uhrwerken, Gedächtnisse zu Schallplatten“, schrieb 1991 die ‚FAZ‘.[3] 

Mehr noch: die Technik reklamiert längst eine ganze Sprache für sich. Es ist das Englische. Sie nistet sich ein mit zumeist und zutiefst banalen Ausdrücken in die Natursprachen der Welt. Die Benutzung von Anglismen gilt überall als chic und modern, passt wunderbar in die Werbung. 

Wir leben in der Cloud. 

Dort will ich
freier atmen
dort will ich ein Alphabet erfinden
von tätigen Buchstaben

Hilde Domin (1909-2006), deutsche Lyrikerin in ihrem Gedicht ‚Flucht‘[4]

In Wahrheit sind die meisten Slogans peinlicher Kitsch. Jeder Engländer würde sich ihrer schämen.

Die kritische Vernunft befindet sich derweil auf dem Rückzug. Noch residiert sie vor allem in der modernen Kunst, befand der Philosoph Theodor W. Adorno. In der Welt als Vorstellung, als Entwurf, als Gegenentwurf. Die Kunst stört – vor allem dann, wenn sie mehr ist als nur  Design und Wohnzimmer-Dekoration. Darin werden Kunst und kritische Vernunft identisch.

Vielleicht wird jetzt beiden der Garaus gemacht. Durch die KI. Durch die künstliche Kunst. Die Kunst wird formal zum puren Design, zur puren, sterilen Optik, zur Virtuellen Trivialität.

Wir brauchen die kritische Vernunft nicht mehr. ChatGPT übernimmt. Den widerspenstigen Rest regelt eine unerbittlich daherkommende Moral, die kein Pardon mehr kennt.

Ein Zeitalter unerträglicher Gleichförmigkeit wartet auf uns. Aber das – so möchte man boshaft ergänzen – die meisten bekommen das gar nicht mehr mit.

Der bürokratischen Zeit konnte die kritische Vernunft immer nur hinterherhecheln – oder sie ignorieren. Beides kostet unglaublich Kraft, wie wir seit Kafka wissen. Die bürokratische Zeit ist uns stets ein Formular, ein Memo, ein Paragraph, eine Vorschrift voraus. Egal, ob analog – als Papier – oder digital – als App.

Buchhändler verschwinden, Buchhaltung bleibt.

Die bürokratische Zeit siegt immer. Im Verein mit der Technik. Bislang. In Wahrheit hat sie nichts aufzuweisen. Nur den Sieg. Den täglichen Sieg. Über uns. Mit Haffmans möchte man sagen, das ist „ihre durchgängige Triebstruktur, die kein anderes Konstruktionsprinzip kennt als Fressen und Gefressenwerden, mit dem alleinigen Zweck, sich selbst zu reproduzieren.“ [5]

Technik und Bürokratie verhalten sich wie Kannibalen. Sie jagen, kochen und braten sich selbst. Wir nennen es dann Fortschritt. Aber in Wirklichkeit ist es rasende Sinnlosigkeit.

 2001: Es ist ein Wahn zu glauben, dass Technik irgendetwas ändern kann.

Hans-Georg Gadamer (1900-2002), deutscher Philosoph[6]

Die Technik steuert in ihrer Eigendynamik auf einen Punkt zu, von dem aus der Mensch völlig bedeutungslos wird. Bald wird es auch keine Autoren mehr geben – wie es sie noch gab, als ich ein tapferes Schreiberlein werden wollte. Damals, 1973/74, als noch schwerer Bleisatz auf dem Beruf lastete. Damals, als wir hinter jedem Leser kritische Vernunft witterten. Und heute, 50 Jahre später, in einer Zeit, in der sich alles, was ich schreibe, in resonanzfähige Nullen und Einsen auflöst, erfahre ich, dass das mit der kritischen Vernunft nicht ganz so toll ist. Du verstummst. Und darfst nicht einmal beleidigt sein. Das gebietet die instrumentelle Vernunft, die alles beherrscht. Kritik ist unprofessionell. Es gibt keinen Ausweg mehr.

***

Wer ahnte damals, dass die Bürokratisierung irgendwann die Digitalisierung aller Lebensverhältnisse bedeuten würde! Von der Wiege bis zur Bahre. Big Brother is watching you, Big Data is catching you.

Selbst die historische Zeit wird überwältigt, die Welt der großen, epochalen Ereignisse, die uns so lange in ihren Bann gezogen hatten und mit dem Fall der Mauer 1989 ihren größten Triumph feierten. Das war höchste Sinnerfüllung.

Dachte ich jedenfalls.

„Nach unserem ersten unbezweifelbaren Prinzip (ist) die historische Welt ganz gewiss von den Menschen gemacht worden“, schrieb 1725 der italienische Philosoph Giambattista Vico (1668-1744) in seinen Werk „Szienza nuova prima“, Neue Wissenschaft.[7] Aber die bürokratische Welt hat sich vom Menschen abgewandt. Sie folgt nur sich selbst – und der Technik, ihrem alter ego.

Nun stehen wir vor dem „Ende der Geschichte“. So der Titel eines Weltbestsellers, der zuerst als Essay 1989 veröffentlicht worden war. Dessen Autor war der Harvard-Gelehrte Francis Fukuyama (*1952). Irgendwie stehen wir tatsächlich vor dem Ende der menschengemachten Geschichte, wie sie Vico beschwor.

Vielleicht ist sogar einer wie Putin das abschreckende, letzte Beispiel für menschengemachte Geschichte. 

 

 Bisher erschienen:

Teil 1: Der Zukunftsschock  // Teil 2: Der Sturz des Menschen // Teil 3: Das Prinzip Verantwortung //Teil 4: Fehler im System // Teil 5: Goethe und der Maschinenmensch // Teil 6: Unter dem Himmel des Friedens // Teil 7: Auf dem Weg ins Wolkengooglesheim // Teil 8: Die Seele und der Prozess // Teil 9: In diktatorischer Vertikalität // Teil 10: Über das Über-Über-Ich // Teil 11: Die demente Demokratie // Teil 12: Welt der Befehle // Teil 13: Fridays sind für die Future // Teil 14: Das Systemprogramm // Teil 15:  Die alltägliche Auferstehung // Teil 16: Vater User, der Du bist im Himmel // Teil 17: Der Prozess // Teil 18: Unter Zeitzwang // Teil 19: Die Uran-Maschine und das Jetzt // Teil 20: Die digitale Stallfütterung // Fortsetzung folgt

 

 


7 Kommentare:

  1. Die wahre humane Lehrmethode, wenigstens in empfindlichen Materien, besteht darin, nur die Prämissen auszusprechen, die Konklusionen aber dem eignen Verstand des Lesers oder Zuhörers zu überlassen.
    Ludwig Feuerbach (1804 - 1872)
    Philosophische Kritiken und Grundsätze 1980 Wiesbaden

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  2. Kein Wunder diese Erkenntnis - Kerouac hatte ja die Angewohnheit, sein Bewußtsein regelmäßig zu erweitern 🥴

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    1. "Ein wenig Gift ab und zu: das macht angenehme Träume. Und viel Gift zuletzt, zu einem angenehmen Sterben. "
      Friedrich Nietzsche
      Menschliches, Allzumenschliches
      Chemnitz 1878

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  3. Was waren nochmal Schallplatten – und 1975 besaßen 93 Prozent aller deutschen Haushalte einen Fernseher. Also war die Grundversorgung gesichert, vermutlich mehr Haushalte als mit Zeitungs-Abo

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  4. Das Gericht steht Josef K. als eine unbekannte, anonyme Macht gegenüber...

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  5. "Fröhlich ist die Wissenschaft
    Wenn sie lügt gewissenhaft"
    Friedrich Nietzsche

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