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Sonntag, 31. März 2024

Gedankenexperimente aus tausend und einer Seite (Teil 15)

 Jedes Studium ist, ob mittel- oder unmittelbar, Studium des Menschen.

Heinrich Mann (1871-1950), deutscher Schriftsteller

Die alltägliche Auferstehung

 Von Raimund Vollmer 

„Im Mittelalter lagen die beiden Seiten des Bewusstsein – nach der Welt hin und nach dem Innern des Menschen selbst – wie unter einem gemeinsamen Schleier, träumend oder hellwach“, schrieb 1860 der Schweizer Kulturhistoriker Jacob Burckhardt (1818-1897) in seinem Buch „Die Kultur der Renaissance in Italien“. Doch dann – so heißt es weiter - „erhebt sich mit voller Macht das Subjektive, der Mensch wird geistiges Individuum und erkennt sich als solches.“ Ein beispielloser Siegeszug beginnt, die Eroberung der Welt. Durch Europa. Der Lohn ist eine bis dahin ungeahnte „Freiheit – die Freiheit von überkommenen Bindungen“, steigt der Schriftsteller und Politikwissenschaftler Christian Graf von Krockow (1927-2002) in diese Aussage Burckhardts ein. 1982 meinte der Graf: „Aber auch ein Preis muss gezahlt werden. Freiheit wird erkauft durch Vereinzelung, schließlich durch Einsamkeit.“

Aber das ist noch lange nicht das Ende dieses Prozesses. Denn alles ist Prozess oder wird dazu. Am Ende dieser Prozesse steht nicht mehr die Freiheit des einzelnen, sondern die Freiheit aller, der Dienst am Ganzen, das Gemeinwohl.

Das eine, die Freiheit des einzelnen,  sei in der Garantie des Rechtsstaats angelegt, das andere, die Freiheit aller, sei „Aufgabe des republikanischen Prinzips“, meinte 2023 der Jenaer Rechtsgelehrte Rolf Gröschner in der F.A.Z.. Und er sieht mit Referenz an Philosophen wie den Schweizer Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) „das Prinzip der Republik als das Beste, was Europa in Verfassungsfragen zu bieten hat“. Ja, einer wie Rousseau wünschte sich, so schreibt Gröner weiter, „Herzensrepublikaner, die ihre angeborene Selbstliebe (‚amour de soi‘) in eine allgemeine Freiheitsliebe und mit ihr in den politischen Freiheitswillen der ‚volonté générale‘ transformieren.“

Ein verführerischer Gedanke. Gemeinwohl statt Einsamkeit. Aber denken wir klar: Diese Transformation riecht irgendwie nach Selbstaufgabe.

Inzwischen wissen wir, die wir gerade der Corona-Isolation entkommen sind, sehr genau, was Einsamkeit ist – und dass uns keine Social Media daraus befreien kann. Es gibt keine Idyllen mehr. Waren sie nicht ohnehin immer eine Illusion? Macht Einsamkeit wirklich frei – oder macht sie doch nur krank?

Krankheit ist ein Prozess.

Leo A. Nefiodow (1939-2022), deutscher Wirtschaftsforscher

Ferdinand Tönnies (1855-1935), ein namhafter deutscher Soziologe und Philosoph, hatte 1887 sein Werk „Gesellschaft und Gemeinschaft“ vorgelegt und bestimmt: „Gemeinschaft ist das dauernde und echte Zusammenleben, Gesellschaft nur ein vorübergehendes und scheinbares.“ Eine Beschreibung der Gesellschaft, wie sie geradezu perfekt passt zur Social Media. Hier ist alles fließend,  alles ein permanenter Prozess, alles scheinbar, nichts endgültig, immer offen – und doch völlig leer.

Und diese Leere überwältigt uns, reißt uns mit sich. In den sozialen Medien sind wir einsamer denn je.

Diese Leere überwältigt uns, reißt uns mit sich. In den sozialen Medien sind wir einsamer denn je. Und selbst bei den Demonstrationen für die Demokratie und gegen alles, was den Menschen des Menschseins beraubt, stellen wir am Ende fest, dass wir wieder ganz allein sind. 

Das Ich verschwindet in dieser Leere.

Wir haben – bei dem nunmehr endgültigen Übergang in das neue Jahrtausend – das Gefühl, dass es beides nicht mehr gibt. Die Gemeinschaft nicht, dieses Füreinander, und die Gesellschaft nicht, dieses Gegeneinander, bei dem wir uns mit unseren Interessen im Widerstreit mit anderen bewegen, mit unseren Meinungen und Ansichten.

 1998: Wir sind eine Gesellschaft, die noch nicht gemerkt hat, dass sie in einem ständigen Transformationsprozess steckt.

Herwig Birg (*1939), deutscher Bevölkerungswissenschaftler

 

Wohl kein anderes Gemeinwesen ist so radikal und so ohne Vorbehalt ‚Gesellschaft‘ geworden wie das bundesdeutsche“, schrieb Graf von Krockow damals in der Wochenzeitung ‚Die Zeit‘. Ja, wir waren vor allem eine Hochleistungsgesellschaft. 

Wir, also die Babyboomer, die wir während des Wirtschaftswunders in diese Welt hineingeboren wurden, hatten unsere Probleme mit dieser Hochleistungsgesellschaft. Wir waren sehr fleißig. Das schon. Wir waren es auch gerne. Aber Faulsein war auch wunderschön. Am besten im Ausland, im Urlaub. An die Massenstrände Italiens und Mallorcas.

Doch dann verloren wir uns irgendwann selbst aus den Augen.

Nun leben wir, die Generation der Babyboomer, in einem Vakuum, sind Rentner von Beruf oder diesem Berufsziel sehr nahe.

Auf der Straße begegnen wir uns selbst, den Silberrücken. Radeln aneinander vorbei. Wie früher. Als Kinder. Grinsen kurz.

Weiter geht’s! Unaufhaltsam. Unterhaltsam – der täglichen Auferstehung entgegen.  

Der Maria-Hilfs-Motor des Mofas ist nun elektrisch ins Fahrrad geladen. Welch‘ ein Fortschritt! Zwei Beine, zwei Räder – was brauchst Du mehrfür Deine Auferstehung?

Du bist wieder so frei wie ein Kind.

Genieße es, bevor Dir die Schilder-Bürokratie den Spaß verdirbt! Sie tritt bereits in die Pedale. Im Namen des Gemeinwohls. Das größte aller Imitativsysteme kassiert das letzte Stück Freiheit. Und du merkst es erst dann, wenn es längst zu spät ist. Dabei hat alles schon vor langer, langer Zeit begonnen – vor 250 Jahren. Mit der Aufklärung. Mit dem Beginn der Großen Transformation, die alles in sich verschlingt.

Doch was – zum Teufel – sind Imitativsysteme? Wir begegnen ihnen überall, aber wir erkennen sie nicht. Wahrscheinlich haben wir noch nie etwas von ihnen gehört. Dabei schauen wir täglich in deren jüngstes, perfektes und perfidestes Produkt hinein: in das Smartphone. Es hat alles, es ist die Krönung aller Imitativsysteme. Es imitiert Gemeinwohl, es imitiert die Freiheit des einzelnen – und zerstört beides zugleich.

Ein Gedanke, so klar, dass man ihn eigentlich gar nicht aussprechen darf. Jedenfalls nicht in Echt.

Sind wir überhaupt echt?

Natürlich erwarten wir darauf echt keine Antwort. 

 

 Bisher erschienen:

Teil 1: Der Zukunftsschock  // Teil 2: Der Sturz des Menschen // Teil 3: Das Prinzip Verantwortung //Teil 4: Fehler im System // Teil 5: Goethe und der Maschinenmensch // Teil 6: Unter dem Himmel des Friedens // Teil 7: Auf dem Weg ins Wolkengooglesheim // Teil 8: Die Seele und der Prozess // Teil 9: In diktatorischer Vertikalität // Teil 10: Über das Über-Über-Ich // Teil 11: Die demente Demokratie // Teil 12: Welt der Befehle // Teil 13: Fridays sind für die Future // Teil 14: Das Systemprogramm // Teil 15:  Die alltägliche Auferstehung // Teil 16: Vater User, der Du bist im Himmel // Teil 17: Der Prozess // Teil 18: Unter Zeitzwang // Teil 19: Die Uran-Maschine und das Jetzt // Teil 20: Die digitale Stallfütterung // Fortsetzung folgt

 

 

 

25 Kommentare:

  1. Ein wahrhaft österliches Gedankenspiel...

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  2. Da sieht man, wie der Mensch im Grunde nur selbstbezogen ist.
    Kein österliches Zitat. Jesus hat sich am Kreuz geopfert - für die Menschen.

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    1. ...ich meinte das von Heinrich Mann

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    2. Man kann was einfacher ausdrücken:
      >> ach, ich werde mir doch mächtig fehlen, wenn ich einst gestorben bin.
      K. Tucholsky <<

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  3. Himmel & Hölle - nur Imitativsysteme des Alltags?

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  4. Falsch!
    Himmel und Hölle sind fein sortiert.
    Auf der Erde geht's auf Durcheinander, Gegeneinander.

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  5. Tönnies Definition war damals schon schlicht und liest sich heute noch schlichter.
    Ich sage das mit dem Vorbehalt, dass ich nicht weiß, in welchem Zusammenhang er das so sagte.
    Mit der Generation danach kam ja der große Kölner Soziologe König, der sich intensiv mit Gemeinschaften und Gesellschaften (auch feldforschend und ethnisch) auseinandersetzte.
    Sein Riesenwerk ist heute noch interessant - wenn auch die nachfolgenden Soziologen mit ihre eigenen Pisspunkten neue Markierungen setzten.
    Jeder Hundehalter kennt diese Mechanismen, die auch in der Wissenschaft gelten.

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  6. Deshalb gilt für mich: Mein Wissen ist gering, mein Verstand zu kurz für diese Welt.

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  7. Ach wie sollte ich denn die Übel meiden, die mir niemals widerfuhren. (nach Jane Austen)

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  8. Bei Gemeinschaften halte ich es mit Erich Mühsam:
    > Man soll sich nicht in Häuschen laben, wo die Bewohner Läuschen haben. <

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  9. Ist dein Leben nicht im Lot,
    macht es dir ein Angebot:
    Ändere dich und werd ein Anderer!
    Doch ich möcht es so erleben,
    dass sich ändert mal das Leben.

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  10. Wenn es mir wirklich schlecht geht, lese ich Opernlibretti.
    Da erfahre ich, wie bösartig, hinterlistig, gewalttätig und derb die andere Welt
    (der Reichen) ist.
    Schon sehe ich meine Lage rosiger.

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  11. ....und was soll uns das sagen?

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  12. Herr Vollmer, immer wenn ich ihre Kommentare lese, denke ich daran:
     "Wenn man erst mal einen Hammer in der Hand hat, sieht man nur noch Nägel ."
    Jesper Juul Familientherapeut

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  13. Das soll uns sagen, dass die Zukunft schon passé ist

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  14. Dann darf ich also nicht auf den Himmel bauen?

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  15. An den Stätten des Rechts hängen heute Kreuze.
    Da kann man nicht mehr von Gottlosigkeit sprechen, wie zu Zeiten der Prediger.

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  16. Um es mit Brian zu sagen: Always Look on the bright side of life !!!

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  17. Zu "Jesper Juul": "If you only have a hammer, the whole world looks like nails". So kenne ich das Zitat. Aber ich kann Ihnen versichern, ich treffe immer den Nagel auf den Kopf. Es muss dann wohl eher an Ihnen liegen, wenn Sie dahinter die ganze Welt wittern.

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    1. "Es sind die harten Freunde, die uns schleifen...
      .....
      Vom andern aus lerne die Welt begreifen."
      Joachim Ringelnatz
      1982 Hensel Verlag

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    2. "Und das Wasser schmeckte nach Verrat.
      Leise schlich das Herz zurück,
      Schlich sich durch die Hand zur Tat,
      Hämmerte.
      Und da dämmerte
      Ihm das Glück.
      Joachim Ringelnatz
      1982 Hensel Verlag

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  18. If I had a hammer
    I'd hammer in the morning
    I'd hammer in the evening
    All over this land
    I'd hammer out danger
    I'd hammer out a warning
    I'd hammer about the love between my brothers and my sisters
    All, all over this land

    Trini Lopez

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  19. Im Leben muss man sich entscheiden: Entweder man ist Hammer oder Amboss.
    Bevor ich immer nur Amboss bin, bin ich lieber Hammer.
    Hammer's?

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  20. Boss ist besser als am Boss!
    Hammer's?

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