„Wähler: einer, der sich des geheiligten Privilegs erfreut, für den Mann stimmen zu dürfen, den ein anderer für ihn ausgewählt hat.“
Ambrose Bierce (1842-1914), amerikanischer Schriftsteller
„Wähler: einer, der sich des geheiligten Privilegs erfreut, für den Mann stimmen zu dürfen, den ein anderer für ihn ausgewählt hat.“
Ambrose Bierce (1842-1914), amerikanischer Schriftsteller
„Im verdorbensten Staat gibt es die meisten Gesetze.“
Publius Cornelius Tacitus (50-116), römischer Historiker
„Was ist Kultur? Zu wissen, was einen angeht, und zu wissen, was einen zu wissen angeht.“
Hugo von Hofmannsthal (1874-1929), österreichischer Schriftsteller
„Von allen Definitionen über den Menschen ist die am schlechtesten, die ihn als vernunftbegabtes Tier bezeichnet.“
Anatole France (1844-1924), französischer Romancier
Novalis (1772–1801), deutscher Schriftsteller der Frühromantik
Von Raimund Vollmer
Der eine schweigt und genießt. Noch. Der andere schreit und vergibt. Noch. Putin & Trump. So einfach könnte man es sich machen, wenn es denn so einfach wäre. Und genau das ist es nicht - gemessen an dem, was sich in diesen Tagen ereignet.
„Wenige Wochen nach dem Beginn der zweiten Präsidentschaft von Donald Trump gibt es kaum noch einen Zweifel: Das Jahr 2025 dürfte zur tiefsten Zäsur der Weltgeschichte seit dem Untergang des Sowjetimperium in den Jahren 1989 bis 1991, ja vermutlich seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges vor 80 Jahren werden – am 8. Mai in Europa und vier Monate Später, am 2. September, in Ostasien.“
So heißt es am 4. März 2025 in der FAZ. Autor ist niemand anders als Heinrich August Winkler (*1938), einer der renommiertesten Historiker Deutschlands.[1]
Ich gebe voller Eitelkeit zu, dass der Großhistoriker mit diesem Eröffnungssatz das bestätigt, was du selbst bereits am 20. Januar 2025, am Tag der Inauguration des Donald Trump, hier in der Journalyse so formuliert hast: „Heute, am 20. Januar 2025 wird uns endlich das 21. Jahrhundert in seiner ganzen Reinheit und Einheit bereitgestellt. - Alles, was vorher war, ist jetzt einer neuen Weltordnung unterworfen. 50 Jahre lang lebten wir in der Transformation von dem einen Jahrhundert ins andere. Hin und her ging es. Zwischen Fortschritt und Rückschritt.“
Aber leider – so musst du zugeben – gehörte zu dieser Erkenntnis nicht viel. Das hat ja jeder gespürt. Sogar der Mann, der für diese Zäsur steht und sie vor sich her treibt. Am Tag seiner ersten Rede vor dem Kongress, am Dienstag, 4. März 2025, erklärt er: „Unser Land steht vor einem Comeback, wie es die Welt noch nie gesehen hat und vielleicht auch nie wieder sehen wird."
Eine neue Ära hat begonnen. Es wird, es ist „die großartigste und erfolgreichste Ära in der Geschichte unseres Landes“, sagt Trump. „America is back.“
Wir stehen jetzt mit beiden Beinen im 21. Jahrhundert. Uns Alteuropäern gefällt es nicht. Überhaupt nicht. Jedenfalls nicht so. Denn wir sind nicht länger Teil des Deals, des NEW MAGA-DEALS. Wir müssen uns mit den Brosamen begnügen, die vom Tisch fallen.
Es ist wohl Zeit, dass wir verschwinden. In die komplette Bedeutungslosigkeit. Dafür steht die in die ganze Welt hinausgestrahlte und hinausgeprahlte Demütigung des ukrainischen Präsidenten Wladimir Selenskij. Verlassen. Isoliert. Putin zum Fraß vorgeworfen. Ohne amerikanische Militärhilfe. Das Exempel für ganz West- und Mitteleuropa.
So geschehen am Freitag, 28. Februar 2025. Vor laufenden Kameras.
Seit dem 20. Januar 2025 geht es Schlag auf Schlag. Trump zeigt allen, dass er der unerbittliche Herr ist über Raum und Zeit. Sein Raum weitet sich zu einem neuen nordatlantischen Pakt, von Grönland über Kanada, seine Vereinigten Staaten bis hin zum Golf von America, der nicht mehr Golf von Mexico genannt werden darf. Die Seemacht USA erweitert sich zur größten Landmacht der Erde. Stattlichen 22 Millionen Quadratkilometern der Trumperiums stehen magere 18 Millionen des – möglicherweise – um eine Ukraine erweiterten Putineriums gegenüber.
Das Putinerium
Russland: 17.100.000 km²
Ukraine: 603.628 km²
Das Trumperium
Grönland: 2.166.000 km²
Kanada: 9.985.000 km²
USA: 9.867.000 km²
_______________________
China: 9.597.000 km²
EU: 4.233.000 km²
Aber geht es Trump wirklich um Land? Nein, es geht noch nicht einmal um Leute. Es geht auch nicht um Bodenschätze. Das sind alles nur Deals, wie sie Trump mag. Es geht nicht um ein Reich, das von dieser Welt ist. Es geht um das, was seit 1984 Cyberspace genannt wird – um das Reich, das alles steuert. Denn Cyber ist der altgriechische Begriff für Steuerung. Es ist das Land, in dem die Datenströme fließen. Es ist ein gewaltiges Jetztwerk, das keine Zukunft kennt, keine Vergangenheit, nur den Augenblick, auf den sich alles verkürzt, alles nach Belieben regeln lässt: Zölle, Währungen, Grenzen, Gebiete, Gesetze, Verträge, Freundschaften, Menschenrechte. Alles ist fortan Trumps Entscheidungen unterworfen. Im Stundentakt. Im Nanosekundentakt. Jetzt. Pausenlos. Unsichtbar.
Wir fallen in die Jetzt-Zeit. Es ist nicht meine Zeit. Es ist nicht deine Zeit. Es ist eigentlich niemandes Zeit. Es ist auch nicht Trumps Zeit. Nur weiß er es noch nicht. Es ist noch nicht einmal MAGA-Time. Denn die Macht wandert hinüber zu denjenigen, die der Präsident der Vereinigten Staaten für seine Freunde halten mag. Die Musks dieser Welt sind die wahren Oligarchen des Cyberspace, die alles umdeuten können, was uns einmal etwas bedeutete. Sie haben das Weltgeschehen in der Hand.
Ihr allein gültiger Zeithorizont ist ohnehin das Jetzt, das allgegenwärtige Jetzt. Das World-Wide-Web-Jetzt. Es ordnet die Welt. Und die Herren der Zeit nehmen sich alle Zeit, unsere Zeit. Jetzt.
Es ist nicht meine Welt, es ist nicht deine Welt.
Nein, unsere Welt ist es nicht. Alte Bindungen gelten hier nichts mehr. Dein Jetzt ist nicht mein Jetzt. Und mein Jetzt ist auch immer weniger mein Jetzt.
Es gehört den Herren der Zeit, den Zeitdealern.
Sie haben alle Zeit der Welt. Denn sie herrschen in der Jetzt-Zeit. Im ultimativen Jetzt-Werk.
Dieses neue Jetzt-Werk zerlegt die Welt jederzeit in Abermilliarden von Einzelschritten. In Bits & Bytes. Null und eins. Mit Hilfe von durch und durch rationalen Verfahren. Man nannte es früher Data Processing, Datenverarbeitung. Etwa seit 1950.[2] Heute hat es viele Namen.
Wir können diesen Einzelschritten nur noch hinterherhecheln. Wahrscheinlich fehlt es uns an Phantasie. Bei uns herrschen Buchhalterseelen. Und diese sitzen tief.
Wer ahnte schon vor siebzig Jahren, dass die Bürokratie, die damals den Computer für sich entdeckte, nun in der Digitalisierung aller Lebensverhältnisse ihre Vollendung finden würde! Aber das war nur der administrative Teil. Ätzend. Buchhalterwelten.
Doch sie werden nun zu neuem, triumphalen Leben erweckt, zu imperialer Herrschaft. Der Franziskanermönch Luca Pacioli, der Ende des 15. Jahrhunderts die Bibel der doppelten Buchführung verfasste und damit den Medicis und Fuggers zu imperialer Macht verhalf, ahnte kaum, dass Jahrhunderte später Goethe die Dopik „eine der schönsten Erfindungen des menschlichen Geistes“ nennen würde. Endlich konnten die Superreichen der damaligen Zeit damit ihre über alle Welt verteilten Schätze in den Griff bekommen. Es war der Cyberspace der Renaissance – und Pacioli war sogar der Lehrer von Leonardo da Vinci. Macht und Mathematik, Goldener Schnitt und Schöngeist – alles war damals vereint.
Für uns wäre heute der Cyberspace eine der schönsten Erfindungen, wenn er nicht längst den Medicis und Fuggers des 21. Jahrhunderts gehören würde, die sich kaum für Kunst begeistern werden. Die Giganten der Informatik sind an Kunst nicht interessiert. Wahrscheinlich noch nicht einmal an Politik, sonst hätten sie jemand anderes gewählt als Donald Trump.
Sie wollen den Cyberspace zu ihrem Imperium umformen, zu einem Imperium, in dem einer wie Trump nur die Gallionsfigur spielen darf. Irgendwann wird er sein ureigenes Verdikt hören: „You’re fired.“ Mit ihm wird alles, was wir einmal die historische Zeit nannten und die ihm und Putin doch nur noch als Kulisse dienten, für immer untergehen.
Ja, die Kaiser sind nackt. In Russland ebenso wie in den USA. Sie wissen es nur nicht oder wollen es nicht wahrhaben.
Während Wladimir Putin mit dem brutalen Krieg um die Ukraine sein Russland zurück zu alter Größe führen und sich einen fetten Eintrag ins Geschichtsbuch sichern will, will Trump jeden Tag Geschichte schreiben. Es ist die Geschichte, über die er sich zugleich triumphal erhebt. „Die ganze Welt ist Bühne“, heißt es bei Shakespeare. Im zweiten Akt des Stückes mit dem bezeichnenden Namen „Wie es Euch gefällt“. Und doch ist es nur die „Seifenblase Ruhm“ (Shakespeare). Sie zerplatzt in und mit der historischen Zeit, das ist die eigentliche Zäsur des Jahres 2025. Die Geschichte geht zu Ende. Sie stirbt in jeder Millisekunde einen milliardenfachen Tod. Sie ist nicht mehr als ein ewiger Datenstrom, in den wir uns alle auflösen.
***
Das, was Trump am meisten schätzt, was er für wichtiger hält als alles andere: das ist Aufmerksamkeit, die ungeteilte Aufmerksamkeit der ganzen Welt. 43 Tage lang durfte er sie genießen. Die Frage ist nur: Wie lange noch?
Irgendwann wird ihm keiner mehr zuhören. Als Trump am 4. März 2025 den Kongresssaal betritt, blieben die meisten Abgeordneten der Demokratischen Partei sitzen...
Russland schweigt. China schweigt. Europa schweigt. Und die Tech-Tycoons denken sich ihr Teil.
Aber Selenskij ist allein zuhaus. Er schreibt einen Brief an Trump. Und der Präsident verzeiht dem Präsidenten. Denn er ist der Präsident.
The show must go on.
„Es kann manchmal sehr unrecht sein, ein Recht auszuüben.“
Marie von Ebner Eschenbach (1830-1916), österreichische Schriftstellerin
"Das Glück geht der Zeit voraus, in der man sich für glücklich hält.“
Robert Pinget (1919_1979), Schweizer Auto
„Es gibt schlechte Eigenschaften, die große Talente machen.“
La Rochefoucauld (1613-1680), französischer Aphoristiker
„Die zwei größten Tyrannen der Erde: der Zufall und die Zeit.“
Von Raimund Vollmer
Wir schreiben das Jahr 1998. Und doch hätte es auch das Jahr 2025 sein können. 1998 lag irgendwie in der Mitte. Das Jahr 1998 war nur einen Steinwurf von jener Zeit entfernt, die wir Nachkrieg und Wirtschaftswunder nennen. Dieser Steinwurf traf in Bonn aus heiterem Himmel einen sehr prominenten Mann. Auf alten Fotos, die sich aus der Tiefe eines Archivs nach oben geschlichen hatten, war er als Randalierer identifiziert worden, als behelmter Rebell oder Rabauke bei einer deftigen Straßenschlacht mit der Polizei. Ein Mann der Straße, der seine Ohnmacht genoss.
Ja, es war das Jahr 1973 gewesen, das 1998 plötzlich wieder aktuell wurde.
Es war irgendwie mein Jahr, aber das auch nur für mich. Ich wurde volljährig und hochschulreif. Und ich wurde Journalist. Ein etwas aufmüpfiger Volontär, der die Macht des Wortes kosten wollte. Kein Rebell, kein Rabauke, unbedeutend. Aber ich hatte keine Ahnung von meiner Ohnmacht. Sie interessierte mich auch gar nicht. Auch 1998 war sie für mich kein Thema. Warum auch?
Ganz im Gegensatz zu dem Menschen, der 1968 zum Marsch durch die Institutionen angetreten war, in Turnschuhen und der nun im Bundestag saß und der sich jetzt wegen seiner Vergangenheit rechtfertigen musste. Das tat er. Erst zögerlich, dann souverän. Seine Vergehen lagen hinter ihm. Sie waren Geschichte.
Ihm wurde verziehen, klammheimlich wurde er sogar bewundert. Ein einst renitenter, nunmehr geläuterter 68er, der längst begonnen hatte, sich in die Demokratie zu wagen und sogar, mit Verlaub, seinen Spaß daran hatte. Im Grunde genommen war er einer aus einer anderen Zeit. Einer, der sich von der rohen Straßengewalt zur hohen Staatsmacht gewandelt hatte – eine andere Art von ‚Clockwork Orange‘. Ein Hierarch, der wusste, was es heißt an der Spitze zu stehen, weil er von ganz unten kam, aus den Sphären bodenloser Ohnmacht. Nun war er hoch oben. Er, der in extremen Minderheiten gekämpft hatte, musste fortan bei den Grünen nicht minder extreme Mehrheiten verteidigen, die er – der Realo – gar nicht teilte. Fünf Mark für den Liter Sprit zum Beispiel. Ein völlig deplatzierter Parteitagsbeschluss. Eine mutige und törichte Demonstration der intellektuellen, spekulativen Macht über die Zukunft.
Deutschland zürnte. Deswegen. Wie kann man nur! War die Wahl jetzt verpatzt? Aus einem einzigen, dummen Augenblick heraus? Er kämpfte weiter. Tapfer. Taff. Topfit. Er war der Star seiner Partei, der Grünen. Und in Deutschland herrschte vor allem die Parteiendemokratie.
So stand er im Frühjahr 1998, er, der zukünftige Außenminister, auf dem Bonner Bahnsteig und wartete auf den Zug. Seit dem verkorksten Parteitag in Magdeburg hatte er immer ein Fünfmarkstück dabei. „Die Hostie der Grünen“, sagte er, der frühere Ministrant, und hielt grinsend das Geldstück hoch. Der Journalist Heribert Klein (1957-2005) notierte es im Mai 1998 für das FAZ-Magazin, schrieb eine tolle Story über ihn: über den Grünen-Politiker Joschka Fischer (*1948).
Er war vielleicht der letzte Grüne, der noch aus der Tiefe kam – und nicht aus einem Lehreramt oder einer sonstigen behaglichen Behörde. 1994 hatte Fischer ein Buch geschrieben. Titel: „Risiko Deutschland“. „235 Seiten Text enthielt das Buch“, erzählt Klein, „häufig gedeutet als versuchter Nachweis seiner Befähigung zum Außenminister – doch dem Text folgen gut hundert Seiten Anmerkungen. Soll doch jeder wissen, wo seine Quellen liegen, woher er sein Wissen hat.“ So der Journalist Klein. Fischer war souverän. Er zeigte, was er gelernt hatte.
Bravo, kann man da nur sagen. Ein Buch, das unsere Geschichte kennt, das in die Tiefe geht. In die Vertikale. Von einem, der aber das Leben nicht nur aus den Büchern kannte, sondern auch von der Straße, nicht nur von dem Kommandohöhen, sondern auch von dem direkten Kampf. Höhen und Tiefen. Macht und Ohnmacht.
„Das Leben in seinen ganzen Abgründigkeiten und Herrlichkeiten ist etwas Wunderbares, und wir haben es nur einmal“, meinte Joschka nicht ohne Pathos in diesem Porträt.[1] Und er, der die Abgründe auch in sich gesehen hatte, erlebte jetzt die Herrlichkeiten. Er wurde belohnt und rettete seine Fünf-Mark-Partei in die Bundesregierung. Joschka wurde Außenminister. Sein Buch programmierte seine Karriere. Sogar Vizekanzler wurde er nach der Wahl am 28. September 1998.[2] Große Ehre. Herrlich. Aufgestiegen von ganz, ganz unten. Ohne Abi, ohne Studium. Ein Madman, ein Selfmademan, wie kein Buch es beschreiben kann.
Irgendwie war dieser Typ ein Anachronismus – ein Auslaufmodell. Entwicklung ist heute Anpassung an die mediale Breite, nicht Auseinandersetzung mit der unprogrammierbaren Tiefe der Gedanken. Niemand ist mehr, mit Verlaub, ein Arschloch. Jeder ist bestens geschult und geschniegelt, bestens präpariert. Immer vernetzt. Immer gelindnert. Immer gerscholzt. Immer gehabeckt. Immer gemerzt. Immer präsent. Immer perfekt. Immer medial. Und im Grunde genommen sind sie alle unausstehlich. Echt langweilig.
Hassbotschaften prallen an den Polit-Profis ab. Sie sind teflonbehaftet. Denn sie wissen, wie man gegensteuern muss – durch Ignorieren, durch Strafanzeigen. Der Rechtsstaat soll schützen. Nicht die Menschen, sondern vor den Menschen, die sich abgrundtief ohnmächtig fühlen und das auf hässlichste Weise zum Ausdruck bringen. Sie geben ihrer Ohnmacht eine Stimme des völlig unreflektierten, barbarischen und abscheulichen Hasses.
Und irgendwie ist man da als Bürger ohne Parteibuch sprachlos und entsetzt, weil auf diese Weise jede Form von Kritik entmachtet wird. Man fühlt sich als Journalist kaltgestellt. Denn vor diesem Hintergrund gerät jede Kritik in den falschen Hals. Am besten äußert man sie gar nicht mehr.
Eigentlich gibt es nur noch eine Form der akzeptierten Kritik. Es ist die Kritik an den Hassboten. Und diese Kritik ist auch nur noch ein Ausdruck der Resignation, des eigenen Gefühls der Ohnmacht. Überhaupt: Da kann man noch so oft auf die Straße gehen, ebenso inbrünstig wie fromm gegen rechts protestieren. Letzten Endes endet es in einer Demonstration der eigenen Ohnmacht. Es ist ein Pfeifen im Walde.
„Ohne die Ohnmächtigen wären die Mächtigen ohnmächtig“, hat der deutsche Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger einmal in den sechziger Jahren formuliert. So ist es. Unsere Ohnmacht stärkt die Macht der Mächtigen. Keiner hat die Macht der Ohnmächtigen so sehr genutzt wie dieser Joschka Fischer. Er war ein Held der Straße, der aus dem Nichts des Protestes ins Zentrum der Macht vorrückte, mit den Weltmächten verhandelte und den ganz Großen auf Du-und-Du stand.
Nur arme Amateure leiden wirklich und ehrlich unter Hassbotschaften. Profis zählen ihre Hasskommentare und kategorisieren sie. Dann stellt man fest: Der Hass ist in überwältigenden Maße männlich. Und so scheidet sich gut & böse auch noch geschlechtsspezifisch. Der Hass. Aber die Empörung. Deutlicher geht es nicht mehr. Damit ist aber auch schon viel darüber gesagt, wohin Macht und Ohnmacht tendieren. Der Hass ist vor allem männlich und ohnmächtig. Die Empörung ist mehr und mehr weiblich und mächtig.
Stimmt das wirklich? Es ist komplizierter, raffinierter.
Vielleicht ist diese Entwicklung auch ganz gut so – nach Jahrhunderten der Männerherrschaft. Vordergründig scheint das auch genauso zu kommen. Hintergründig gedacht könnte es ganz anders sein – könnte sich dahinter das Geheimnis verbergen, warum „Alice für Deutschland“ so erfolgreich ist. Alice Weidel war – laut Berliner Tagesspiegel – 2024 die einzige Frau im 14köpfigen Vorstand ihrer Partei, in der nur jedes fünfte Mitglied weiblich ist. Natürlich ist dies ein jederzeit hinterfragbares und auch ein bisschen provokativ herausgestelltes Indiz dafür, dass sie vor allem die Macht der Ohnmächtigen hinter sich versammelt, die Macht ohnmächtiger Männer. Aber sie zeigt damit zugleich, dass ohne die Macht der Ohnmächtigen die Mächtigen, das Establishment, ohnmächtig sind – das Berliner Establishment.
Natürlich lässt sich das als steile These abtun. Doch im Hinterkopf sollte man sie schon behalten und eine weitere steile These hinterher setzen.
Das Ganze funktioniert nämlich deshalb so gut, weil die AfD ihr Erfolgsgeheimnis absolut geheim hält. Aber man wird den Verdacht nicht los, dass es das BSW und Die Linke wohl auch kennen. Abgeschaut haben sie es indes von Joschka Fischer. Nur ist der längst Vergangenheit.
Die Brandmauer schützte vor allem die Mächtigen vor den Ohnmächtigen. Nun wundern sich die Mächtigen über ihre Ohnmacht.