![]() |
1972 - Die große Verführung |
2014: »Die individuelle Freiheit ist bedroht von einem schleichenden staatlichen Interventionismus, Paternalismus und Bevormundung.« Wolf Schäfer (1941–2020), Vorsitzender der Hayek Gesellschaft
Landnahme nach innen
Von Raimund Vollmer
Wir werden unserem Staat viel verzeihen müssen.
Sein Dank wird uns gewiss sein – und weitermachen. Immer mehr Entscheidungen werden uns abgenommen von einem System, das sich komplett selbst steuern würde, wenn nicht ein paar Politiker ständig dazwischenfunken würden. Querlenker in den eigenen Reihen, sozusagen.
Ja, wer sind wir überhaupt noch hinter unserer Maske? Selbst jetzt, nachdem wir sie wieder abnehmen durften, interessiert dies niemanden. Wichtig ist allein, was wir als Nutzer gemeinschaftlich erbrachter Leistungen verbrauchen.
So kommt aus den USA eine Denkrichtung, die sagt, dass in unserem Tun, in unserer Arbeit so viel an gemeinschaftlicher Vorarbeit stecke, dass der persönlich erbrachte Anteil gar nicht mehr bestimmbar sei. Was uns der Staat nach Abzug aller Steuern und Abgaben lässt, das sei etwa das, was wir auch tatsächlich verdient hätten. Nicht wir sind also die wahren Leistungsträger, sondern die Gemeinschaft, und das ist der Staat.[1] Vor diesem Hintergrund sind natürlich die Digitalkonzerne mit ihrer notorischen Neigung, sich den Steuersystemen zu entziehen, besonders anrüchig. Denn sie profitieren vor allem von bereits erbrachten Gemeinschaftsleistungen. Das Internet hat sich selbst gebaut. So heißt es. Es ist eine kollektive Anstrengung. Aber es gehört eigentlich weder dem Staat noch der Wirtschaft. Es gehört uns. Es ist unser Verdienst. Nun aber wird es mit Eigentumsansprüchen regelrecht überschüttet. Jeder will ein Stück vom Kuchen. Am wenigsten bekommen die, die am meisten zu seinem Erfolg beigetragen haben.
Diese Leistungen, „die vermeintlich dem Pool gesellschaftlicher Güter angehören, sind nichts weiter als positive Nebenwirkungen (Externalitäten)“, meint der deutsche Wirtschaftsphilosoph Hardy Bouillon (*1960). Den Wert dieser Externalitäten für sich zu beanspruchen, ist eine große Verlockung für jeden Staat. Als Hüter dieser Güter. Umgekehrt wird allerdings auch ein Schuh daraus: „Das Hochzeitspaar vor der Kirche, der Posaunist in der Fußgängerzone: sie alle erzeugen ohne Aufforderung solche Externalitäten, die Auge und Ohr erfreuen, durch gemeinsam oder einzeln vollzogene Handlungen“, schreibt er 2002 in der ‚FAZ‘. „Doch die Bereitstellung eines solchen Gutes begründet kein Recht, von anderen Entlohnung zu verlangen.“ Für den einzelnen mag das stimmen, aber für den Staat? Für ihn muss die Idee dahinter verführerisch sein. Wer für alles und alle sorgt, dem gehört auch alles. Eine Perspektive, die uns im Angesicht des Lockdowns und der Milliardenprogramme hätte schaudern lassen sollen. Der Staat finanziert das alles mit unserem Geld, das längst ihm gehört und nach Belieben beliehen werden kann. Was für eine böse Verschwörung! Denken wir lieber nicht daran! Halten wir Abstand! Weg mit der Schuldenbremse. Sie stört. Sie ist ohnehin absurd. Wenn nämlich dem Staat alles gehört, dann ist er so reich, dass sein Vermögen alles deckt. Der Staat besitzt das publizistische Obereigentum über alles und jeden. Der Sozialismus manifestiert sich auf einer für uns unerreichbaren Meta-Ebene. Und da wir bis ins Steuersystem hinein ohnehin nur noch Verbraucher sind, werden wir auch politisch entmündigt.
Am Ende dieser Totalversorgung, die mit dem Erlass des bedingungslosen Grundeinkommens ihre Vollendung erleben könnte, bliebe eine seltsame Erkenntnis: Unser Leben wird irgendwie sinnlos. Das Individuelle ist gebannt, Regelwerke über alles gespannt: „Diese Entlastung wirkt sich positiv aus, wenn der Einzelne innen und außen von einem Regelgefüge getragen wird, macht geistige Energien nach oben frei“, schrieb der Philosoph Arnold Gehlen 1970 tröstend. Meint er das wirklich? Das Problem ist nämlich: Da oben ist nichts mehr, nur noch ein „gewaltiger Leerraum“ (Gehlen).[2]
So leer ist er nicht. Denn über allem schwebt die Cloud, eine vor allem privat geführte Gemeinschaftsleistung, eine mächtige Versorgungsmaschinerie, die sich über unsere Gemeinschaftsleistung, dem guten alten Internet, erheben wird. Das Netz wird ausgehebelt, fast möchte man sagen: ausgehegelt. Dass kein Staat ein solches, über allem, auch über ihn schwebendes, sich selbst regulierendes, privatwirtschaftlich geführtes Supersystem tolerieren kann, ist doch ziemlich klar. So wird er es sich schnappen – wie er dereinst die Post für sich reklamierte und die Bahn, die ohnehin schon längst wieder zu ihm zurückstrebt.
Was bleibt, ist ein jämmerlicher, uralter Konflikt. Norberto Bobbio (1909–2004), Italiens großer Philosoph, brachte es in den letzten Tages des 20. Jahrhunderts auf den Punkt: „Der Wert, der gegenüber dem Staat, der alles sein will, hervortritt, ist das Individuum.“[3] Aber das Individuum hat keine Chance. Wir erleben eine Landnahme nach innen. Durch den Staat. Nachdem für ihn – durch die Wirtschaft, die Globalisierung – die Grenzen nach außen weitgehend aufgehoben sind, wendet er sich an den Einzelnen, an jeden von uns. Nur bei uns hat er noch etwas zu gewinnen, denn er selbst ist durch Verlagerung von Kompetenzen an supranationale Organisationen wie die EU in seiner Souveränität nach außen und nach innen reduziert. Nun knöpft er sich uns vor. Dass wir auf eine solche Welt zusteuern, ist selbstverständlich eine absurde Verschwörungstheorie.
Wer will das schon glauben? Und weil es keiner glaubt, wird es wahr. Tag für Tag.
Putin mit seiner Landnahme ist da völlig antiquiert. Nur starrsinnige Historiker können noch meinen, dass es in der Welt um Geopolitik geht. In der Beziehung ist die Geschichte längst zu Ende. Nur wollen das einige nicht einsehen. Und so führen sie Gefechte, die zu nichts führen. Absolut sinnlos. Leider müssen darunter Millionen von Menschen leiden.
Der Politikwissenschaftler Ernst–Otto Czempiel (1927–2017) meinte 1997: „Die Weltgeschichte spielt nicht mehr, wie es noch Leopold von Ranke formulierte, zwischen den Staaten ab, sondern in ihnen.“[4] Dabei sind wir, die Bürger, Einwohner, das neue Territorium, nicht die Ukraine, nicht Israel, nicht Taiwan. Wir, die Bürger, sind der weiche Stoff, den man in alle Richtungen ziehen und kneten kann. So kann es bald heißen: Ziel erreicht! Wahrscheinlich werden wir es noch nicht einmal merken.
Meinte schon der Meister des Prinzips Hoffnung, Ernst Bloch: „Wer derart herumgeworfen wird, gilt nur als Ding und so als äußerlich.“[5] Das Ding, das Individuum, ist selbst nur noch eine Externalität, eine Gemeinschaftsleistung, die beliebig zerteilbar ist, gibt uns die Genforschung obendrein den Rest und setzt ihre Gen-Schere an.
Der „Denkmeister der Konservativen“, wie Gehlen in einem Nachruf genannt wurde, sah den Menschen „bestimmt durch die künstliche Welt der Kultur“ (‚Die Welt‘) und fürchtete nichts mehr als den Zerfall der Institutionen, die diese Kultur tragen.[6] Von einem solchen Zerfall ist weit und breit nichts zu sehen. Im Gegenteil, da baut und braut sich etwas Neues zusammen. Und das wird eine Techno-Kultur sein, die unendlich komplexer sein wird als die, die wir kennen. Doch zuvor muss die alte Kultur zerstört werden.
Dereinst lebten wir als Jäger und Sammler in einer „Organisation der menschlichen Gesellschaft“, die „nicht viel komplizierter als die eines Wolfsrudels“ gewesen sei, meinte einmal der Nobelpreisträger und Verhaltensforscher Konrad Lorenz (1903–1989). Nun gut. Wie konnte es aber bei einer derart primitiven Ausstattung dazu kommen, dass wir „seit nunmehr 5000 Jahren erfolgreich in staatlich organisierten Gesellschaften leben“, wunderte sich bereits 1988 der deutsche Wissenschaftspublizist Jost Herbig (1938–1994) in der Wochenzeitung ‚Die Zeit‘. Seine Antwort: Es war unser Glaube, unsere Religion. Sie zeigte sich bereits in den Höhlenzeichnungen der Jungsteinzeit, auf die zu erstellen kein Wolfsrudel gekommen wäre.
Diese Kunstwerke haben auf jeden Fall einen kultischen, wenn nicht gar einen religiösen Hintergrund. Herbig: „Ungezählte Menschengenerationen, auf deren Denken und Handeln unsere Zivilisation aufbaut, glaubten an eine göttergeschaffene Ordnung der Welt. Der Glaube an imaginäre Götter, in denen sich die obersten Zwecke menschlicher Gesellschaften verkörperten, befähigte sie, die menschengemachten Probleme ihrer Welt zu lösen.“ [7] Doch da oben ist nichts mehr außer der Cloud, die sich anschickt, all unsere Probleme in sich aufzunehmen.
Sind wir doch nur „Wolfsrudel“, die ihren angeborenen Instinkten und Verhaltensweisen folgen? Die erfolgreichste Spezies auf der Erde sind Bakterien und Viren. Je einfacher etwas aufgebaut ist, desto erfolgreicher ist es. Wir, die Menschen, aber stehen ganz am Ende der Evolution. Um diesen Platz überhaupt zu erobern, blieb uns gar nichts anderes übrig als Komplexität. Das ist der Ort, der uns am Ende der Evolution zugewiesen wurde. Dies sagte 1998 der amerikanische Paläontologe Stephen Jay Gould (1941–2002) in seinem Buch „Illusion Fortschritt“
So errichteten wir mächtige Institutionen, die über uns wachen und uns schützen, aber auch begrenzen und lenken – mit dem Staat als der Krönung. Gehlen würde mit großer Verwunderung sehen, dass wir während der Pandemie diese fürsorglichen Institutionen sogar direkt vor unserer Nase hatten. Sein Kommentar wäre: „Das ist, könnte man sagen, unser Lebensgesetz: Verengung der Möglichkeit, gemeinsamer Halt und gemeinsame Abstützung.“ Ein enges Verhältnis von Staat und Person. Aber hinter der Maske waren die Gedanken noch frei, nicht nur steuerfrei, sie waren wirklich frei. Der Kopf war unser Rest-Posten. Versiegelt. Mit FFP2–gebremsten „Verdampfungsniederschlag“. Doch mit dem Smartphone haben wir etwas ganz anderes vor unserer Nase. Es will an unser Gehirn ran. Als eine der persönlichsten Gemeinschaftsleistungen, die je der Mensch geschaffen hat.
Bei alledem werden die „postdemokratischen Zustände“ deutlicher, wie sie sich schon lange abgezeichnet haben: die Herrschaft des Apparats ersetzt lautlos die alten Herrschenden, die Parlamentarier, die Politiker, die von uns gewählten Repräsentanten. „Die alten ‚Herrschenden können ruhig bleiben, wo sie sind, und werden durch keine neue herrschende Klasse ersetzt“, schrieb der Soziologe Schelsky. 1961, nicht 2021 oder 2024. Lange vor unserer Zeit. Driften wir aber nun in eine Zeit, in der die Technik uns derart übermannt, dass wir gar keine Chance mehr haben, unsere über 30.000 Jahre hin entwickelte Kultur in neue, erfrischende und belebende Kosmologien umzusetzen? Ist das die neue Kultur, die jene ersetzt, an der schon der große Sigmund Freud (1856–1935) sein Unbehagen hatte?
Was geschieht dann mit unserem Parlament – eine leere Hülle? Ja, sagt nicht Schelsky selbst, sondern sein Vorbild. Dies ist sein französischer Kollege Jacques Ellul (1912–1994): „Les décisions techniques paraissent inattaquables par un Parlament“. („Die technischen Entscheidungen erscheinen unangreifbar durch ein Parlament.“) Das war 1954, Nicht 2021 oder 2024![8] Gegen die allmächtigen Naturwissenschaften kommt keine parlamentarische Abstimmung an.
Die Technik hat ihre eigenen Gesetze. Man kann sie durch keinen Parlamentsbeschluss außer Kraft setzen. Gegen die Naturgesetze, auf deren Anwendung die Technik basiert, helfen keine Parlamentsbeschlüsse. Und gegen die Errungenschaften der Wissenschaften auch nicht. Wir sind sozusagen Opfer unseres eigenen Erfolges.
Wenn das keine spektakuläre Verschwörungstheorie ist!
Vorgeführt von alten „Querdenkern“, längst und zwar nicht an und mit Corona verstorben. Die alten Götter, die Politiker, können getrost bleiben! Sie haben ohnehin nichts mehr zu sagen.
Ihre Haushaltsstreitereien langweilen uns.
Wir wählen 2025 ein neues Parlament. Allen Versprechen zum Trotz: Mit noch mehr Abgeordneten – und noch weniger Macht. „Der Epochenzwitter ‚demokratischer Totalitarismus‘ droht“, schrieb fast vierzig Jahre nach Schelsky der scharfsinnige Soziologe Ulrich Beck (1944–2015), der uns sicherlich – würde er noch leben – ordentlich die Leviten lesen würde. Er ahnte bereits: „Die allseits geforderte Effizienz der staatlichen Gewalt- und Kontrollmittel schnürt schon heute Grundrechte ein.“ Das war 1999. Nicht 2021 oder 2024. Alles nichts Neues. Nur darf man dies nicht mehr behaupten, ohne böse, argwöhnische Blicke zu ernten. Sie signalisieren: Ende der Diskussion. Lockdown aller weiteren Gedanken über alle Pandemien hinweg.
Das, was wir im Zeichen der Pandemie an Eingriffen und Sanktionen erlebten, hatte – unbestritten, nochmals: unbestritten, und noch einmal: unbestritten – seine Berechtigung, aber es passte sich fast schon zu harmonisch ein in jene Strömung, die sich seit Jahrzehnten subkutan heranschleicht. „Machtentfaltung nach innen“, nannte es Beck damals. Genau das passiert doch![9] Inzwischen scheint diese systemische Machtentfaltung fast perfekt zu sein. Und wir haben nicht ein einziges, vernünftiges Argument dagegen. Ein Grund, warum die Mächtigen ein leichtes Spiel mit den sogenannten „Querdenkern“ zu haben scheinen. Sie gibt es nicht mehr. Der Liberalismus ist zu Ende, wenn ein früherer Intendant des Südwestfunks in der ‚FAZ‘ den öffentlich-rechtlichen Rundfunk lobt, weil er den Parteitag der AfD in seiner „Tagesschau“ als ganz normal abfeiert. Da werden schon die neuen Machtverhältnisse eingeübt.
Die nächste Phase, die Phase 2, wird vorbereitet. Man könnte sie Appeasement nennen.
Morgen spielt Deutschland gegen Spanien.