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Donnerstag, 31. Oktober 2024

Gedankenexperimente aus tausend und einer Seite (Teil 70): Detroit versus Deutschland - Erinnerungen an Weltkrieg II (1)

 

Mit dem 2. Weltkrieg steigen die USA endgültig zur Supermacht auf. Wider Willen. Nun liest man, dass die Vereinigten Staaten diese Rolle satt hätten. "America first" heißt es. Wie stark diese Tendenz ist und sich durchsetzen wird, erfahren wir mit den kommenden Wahlen. Grund genug, einmal zurückzublicken in eine Zeit, die für Deutschland die schlimmste in seiner Geschichte war. 

Welt in Trümmern

  Von Raimund Vollmer 

 Es ist das Kriegsjahr 1942. Westlich von Detroit wird eine neue, vierspurige Straße eröffnet, genannt der Industrial Expressway. Er vereint die Autostadt mit dem 30 Meilen entfernten Willow Run zu einem „der größten High-Tech-Zentren“ (‚The Economist‘) der damaligen Welt.[1] Denn hier baut die Ford Motor Company im Auftrag der Regierung seit 1941 die schweren und gefürchteten B-24-Bomber. 1943 verlässt jede Stunde eine neue Maschine die Fabrik. Das braucht Menschen. Das braucht Material. Das braucht Straßen wie diesen Expressway. Hier entstehen aber auch die Motoren, die Stalins Panzer antreiben. Und als sich der sowjetische Diktator Ende 1943 mit dem amerikanischen Präsidenten Franklin D. Roosevelt traf, meinte Stalin, dass es die Kriegsfabrik Detroit ist, die Deutschland schlagen wird.

Die USA haben wieder einmal ihre gewaltige Logistikmaschine in Gang gesetzt. Diesmal soll sie ein Land vernichten, das wie kein anderes zuvor Not und Elend über die ganze Welt gebracht hat und selbst wie eine einzige Logistikmaschine zu funktionieren scheint: die Kriegsmaschine namens Deutschland.

Als die größte Materialschlacht der Geschichte zu Ende ist, liegt Europa danieder. Deutschlands Städte bestehen nur noch aus Schutt und Asche. Für den Krieg selbst hatten die Deutschen zwischen 1939 und 1945 rund 570 Milliarden Reichsmark aus dem Staatssäckel bezahlt. Geld, das mit einem Anteil von 510 Milliarden Reichsmark allein für die Wehrmacht ausgegeben worden war.[2] Das Ergebnis war verheerend.

600.000 Menschen, darunter 60.000 Kinder, sterben im Bombardement der Alliierten. Deutschland ist ein Schutthaufen aus 400 Millionen Kubikmeter Trümmern. 2,8 Millionen Wohnungen sind vernichtet, 41,2 Prozent von allen. Überall Zerfall. Bombenhagel und schwere Artillerie haben alles zerstört. „Nicht nur die Häuser, Fabriken, Geschäfts– und Verwaltungsgebäude waren vernichtet, auch die unterirdischen Abwasserleitungen waren in den Städten zu hunderten zerschlagen und zerbrochen. Das gleiche galt von den Wasser– und Gasleitungen, Telefonkabeln und elektrischen Stromzuführungssträngen. Sanitäre Anlagen und Wasserleitungen konnten deshalb nicht benutzt werden. Die Frischwasserentnahme war unmöglich, das Wasser musste weit entfernt an einzelnen Pumpen mit Eimern geholt werden.“ So erinnerte sich 1953 die Bundesregierung in ihrem Bericht „Deutschland heute“.[3]

Bundeskanzler Konrad Adenauer schreibt im Vorwort: „Deutschland hatte das Vertrauen der Welt verloren.“   

So ist die Situation in der Stunde Null. Deutschland verdient keine Gnade.

Der Krieg hat 55 Millionen Menschen weltweit das Leben gekostet. Niemand spricht von Befreiung, sondern von Besetzung. Es gibt kein Pardon: „In heart, body and spirit every German is Hitler“, bestimmte erbarmungslos die amerikanische Soldatenzeitung „Stars and Stripes“.[4]

Die Wut auf die Deutschen und das Entsetzen über die Deutschen sind grenzenlos.

Doch der Mann im Weißen Haus, der dieses Nazi–Land „kastrieren“ und keinesfalls befreien will, ist tot. Am 12. April 1945 ist Franklin Delano Roosevelt (FDR) gestorben. Er war bestimmt von dem Gedanken des „industrial disarmament“, wie der Historiker Bernd Greiner vom Institut für Sozialforschung in Hamburg schreibt. „Aber die industrielle Entwaffnung einer hochentwickelten Nation war noch von niemandem versucht wurden. Auf diesem Gebiet gab es weder ausgebildete Experten noch konzeptionelle Blaupausen. Entsprechend ratlos waren die Bürokraten im Schatzamt, im Justizministerium und in den diversen kriegswirtschaftlichen Planungsstäben.“[5] So schreibt Greiner, der mit einer Studie über die „Morgenthau–Legende“ habilitierte. Nun – die Legende war mit dem Tode Roosevelts zu Ende.

Vizepräsident Harry S. Truman übernimmt. Er ist nun Präsident des mächtigsten Landes der Welt, des einzigen, das im Juli 1945 wissen wird, dass es eine Atombombe besitzt.[6]

Mit Trumans Ernennung sind auch die Pläne des bisherigen Finanzministers und Roosevelt-Getreuen, Henry Morgenthau, Makulatur. Jetzt muss er abtreten. Noch 1944 wollte er das Ruhrgebiet stilllegen lassen, Deutschland zerschlagen und unter den Nachbarn aufteilen.[7] Der Historiker Golo Mann erinnert uns daran, „dass die Alliierten bis tief in das Jahr 1945 hinein nicht zur Zweiteilung, sondern zur Vielteilung des Landes umgegangen waren.“ Allenfalls als Agrarstaat sollte Deutschland weiter existieren dürfen. Selbst Segelfliegen würde verboten sein. Deutschland sollte am Boden bleiben, war zur totalen Demontage freigegeben. Das war der Morgenthau-Plan.

„Auf der Seite der Alliierten überschatteten Misstrauen und Argwohn dem besiegten Nazi-Deutschland gegenüber noch jahrelang alle Gefühle“, erinnert sich 1990 die Journalistin Marion Gräfin Dönhoff an diese Zeit. Selbst nach der Gründung der Bundesrepublik befürchteten die westlichen Alliierten, dass der neue Staat „Zuflucht in einer Schaukelpolitik zwischen Ost und West suchen und sich am Ende dem Osten zuwenden“ werde, weil er allein „das bieten könne, worauf es den Deutschen ankomme“, schrieb die einstige Herausgeberin der Wochenzeitung ‚Die Zeit‘.[8]

In wessen Hände würde also dieses Deutschland fallen?


3 Kommentare:

  1. "Trümmer über Trümmer, Niederlage auf Niederlage – und die Wirrnis wird immer wirrer."
    John Milton (1608 - 1674), englischer Diplomat, politischer Schriftsteller und Epiker

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  2. Die Wesen sind, weil wir sie dachten,
    In trüber Ferne liegt die Welt,
    Es fällt in ihre dunkeln Schachten
    Ein Schimmer, den wir mit uns brachten:
    Warum sie nicht in wilde Trümmer fällt?
    Wir sind das Schicksal, das sie aufrecht hält!

    Ludwig Tieck (1773 - 1853), deutscher Dichter, Dramatiker, Kritiker und Theoretiker der Romantik

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  3. "Nichts ist so leicht, dass es nicht schwer wird, wenn du es wider Willen tust."
    Terenz (195 - 159 v. Chr.), römischer Dichter und Lustspielautor

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