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Sonntag, 2. Juni 2024

Gedankenexperimente aus tausend und einer Seite (Teil 45): Kultur ohne Kultur

1999: „Im Zeitalter der Trance bewegen sich die Menschen mit den Dingen ausgeglichen. Halb Chip, halb Tiefe, bleibt ihnen kein Zwischenraum, zu reflektieren. Die Dinge sind ihnen eingegeben wie im ersten Zeitalter der Trance die Götter.“

Botho Strauß (*1944), deutscher Schriftsteller

Was den Deutschen abgeht

Von Raimund Vollmer

 „Im XVIII. Jahrhundert beginnt, und seit 1815 eilt in gewaltigen Vorwärtsschritten auf die große Crisis zu: die moderne Cultur“, erkannte der große Schweizer Historiker Jacob Burckhardt (1818–1897) eine Welt, in der alles auf Erwerb und Verkehr ausgerichtet ist. Im Gefolge der Französischen Revolution, aber auch der Neuordnung Europas durch den Wiener Kongress und die Gründung des Deutschen Bundes (beides 1815) wurde der Begriff Kultur für ihn zum Synonym für Kommerz.[1]  Die „moderne Cultur“ hat nur noch wenig mit Feinsinnigkeit zu tun, mit Bildung, mit Erbauung.

Nach dem Sieg Deutschlands über Frankreich, 1870/71, befürchtete er, dass nun das Profane, das Professionelle über alles andere triumphiert. Und er fragt sich, ob das Militärische, die „Staats- und Verwaltungsmaschine“, Rettung verheißt. Der deutsche Philosoph Friedrich Nietzsche (1844–1900) sah es 1888 ähnlich: „Die Cultur und der Staat – man betrüge sich hierüber nicht – sind Antagonisten: ‚Cultur–Staat‘ ist bloß eine moderne Idee.“ Der Philosoph Theodor W. Adorno (1903–1969), Mitbegründer der legendären Frankfurter Schule, schrieb: „Wer Kultur sagt, sagt auch Verwaltung, ob er will oder nicht.“[2] Die Bürokratie erhebt sich über alles, sie beansprucht für sich den Oberbefehl – gerne auch gemeinsam mit der Wirtschaft, aber am allerliebsten noch darüber.

In einem Essay analysiert Nietzsche das, was er unter der Überschrift „Was den Deutschen abgeht“ beobachtet hat: je stärker Staat und Wirtschaft, desto niedriger die Kultur. Nach der Gründung des Deutschen Reiches strotzt dieses Deutschland nur so vor Kraft. Die Konsequenz: „In dem Augenblick, in dem Deutschland als Großmacht herauskommt, gewinnt Frankreich als Culturmacht eine veränderte Wichtigkeit.“ Noch meint Nietzsche, dass die Kultur, nicht Staat und Wirtschaft, „die Hauptsache“ sei, aber in dieser Beziehung „kommen die Deutschen nicht mehr in Betracht.“ Wir sind weg vom Fenster. Kultur ist nichts. Wirtschaft und Staat sind alles. Gespart wird immer zuerst an der Kultur. Sie wehrt sich ja auch kaum. Dabei ist sie – so meinen Beobachter – wahrscheinlich der größte Wirtschaftsfaktor. Nur hat die Kultur nichts zu sagen. Das haben andere, die auch anderes im Sinne haben, andere Hauptsachen. 

So denkt auch der mit Nietzsche offenbar seelenverwandte Burckhardt. Die militärische Macht sei nun die Hauptsache: „Alles andere“ ist „als beliebig, dilettantisch, launenhaft in einen zunehmend lächerlichen Contrast gerathen zu der hohen und bis in alles Detail durchgebildeten Zweckmäßigkeit des Militärwesen“, fürchtet Burckhardt sich 1872 – im Gefolge der Reichsgründung – in einem Brief. Andererseits sorgt er sich um die Arbeiterschaft, um „jene Menschenanhäufungen in den großen Werkstätten“, die dem Markt, also der „Gier und der Noth“, ausgeliefert sind. „Der Militärstaat muss Großfabrikant werden“, fordert er gleichsam den Überstaat. Man dürfe den Markt nicht dem Markt überlassen. Sonst werde wohl alles „zum bloßen business“, ahnt Burckhardt. Es wird alles „wie in America“. Dort übernahm die Wirtschaft, also die neue, vollkommen auf Konsum gerichtete, millionenfach entfesselte Kultur, mehr und mehr den Staat. Mit dieser Entwicklung rücke das Individuum in den Vordergrund – aber nur in seiner erbärmlichsten Gestalt: als Konsument, als Verbraucher.

„Glaube das Neue schon als fertiges zu schauen, nämlich als eine verarmte, materiell sehr reduzierte Welt“, bemerkt Burckhardt. Es ist eine Welt, in der alles transparent wird, nimmt der Historiker des 19. Jahrhunderts fast schon das Big Data des 21. Jahrhunderts vorweg. „Vorhänge können plötzlich weggezogen“ werden, zitiert ihn 1997 der Journalist und Schriftsteller Henning Ritter und spürt in dessen Ausführungen eine Ahnung auf, die tatsächlich weit in die Zukunft weist, in unsere Zeit. „Die Ausleuchtung aller Verhältnisse, eine immer größere Sichtbarkeit und die schwindende Chance, unsichtbar bleiben zu können, abgeschirmt zu sein von einer zudringlicher werdenden Öffentlichkeit“ war nach Meinung Ritters das, was Burckhardt als den „Zug der Zeit“ ansah. 

Der Mensch ist nicht mehr Subjekt, nur noch Objekt. Ja, er ist noch nicht einmal mehr Mensch, er ist Funktion. „Individuelle Leistung ist in standardisierte Effizienz umgewandelt worden“, schrieb 1941 der deutsch-amerikanische Philosoph Herbert Marcuse (1898–1979). Das Individuum, das ja – übersetzt – das „Ungeteilte“ heißt, ist in 1000 Funktionen und Algorithmen zersplittert. Es war die „empirische Sozialforschung“, die diese Welt im 20. Jahrhundert bestens aufbereitet hat. Sie „verfährt so, als ob sie die Idee des sozialen Atoms wörtlich nähme“, warnte 1952 Adorno. In ihren Statistiken sind die Menschen „keine Menschen“, sie sind Sachen und so werden sie behandelt. Adorno meinte, dass die Sozialforschung die Wirkung ihrer eigenen Fragen und deren Wortlaut nicht hinterfragt, sondern das Erfragte „so zurichtet. dass es zum Atom wird“.[3]

Ja, das Hinterfragen ist nicht erwünscht.

Wir sind nicht mehr wir selbst, wir sind atomisiert und können damit leicht irgendwelchen Algorithmen unterworfen werden. Wir selbst sind ohne Eigenwert, wir sind unserer Individualität beraubt,  von vorne bis hinten berechenbar und bewertbar: In Geld, das demnächst alles – jede Transaktion – in Blockchains festhält.[4]

10 Kommentare:

  1. Die Kultur hängt von der Kochkunst ab.
    Oscar Wilde

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  2. Wir gehören einer Zeit an, deren Kultur in Gefahr ist, an den Mitteln der Kultur zugrunde zu gehen.
    Friedrich Nietzsche

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  3. Als deutscher Tourist im Ausland steht man vor der Frage, ob man sich benehmen muß oder ob schon deutsche Touristen dagewesen sind.
    Häufig Kurt Tucholsky zugeschrieben

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  4. Wir brauchen keine Bücher die uns glücklich machen.
    Franz Kafka

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  5. Nietzsches Wirtschaft/Militär-erläuterung ist heute nur noch eine zeithistorische Facette.
    Heute gilt längst nicht mehr, dass zuerst an der Kultur gespart wird, sondern am Sozialen - nicht aus politischen Gründen, sondern weil in den mehr als 60 Prozent Wildwuchs-Sozialetats mit der Nagelschere immer ein paar Milliönchen freizulegen sind.
    Wir haben eine staatliche Subventions-Kultur, die weitgehend unkontrolliert Milliarden in Museen, Theater und andere Formen pumpt, unkoordiniert, ohne Strategie.
    Im Gegensatz zu anderen Ländern - auch Frankreich muss sich bei uns die sogenannte Hochkultur ihr Publikum nicht erarbeiten: durch Leistung!
    Der Herr Studienrat mit Gattin, der Stadtrat (mit Freikarte) und das weitere Bildungsbürgertum sitzen dann auf dem mit 200 € subventionierten Polstersessel in der Oper und wissen, egal wie flach oder gut die Aufführung ist: nächstes Jahr geht's munter weiter mit den Verpflichtungen hoch dotierter Solisten, die den Ruf des Hauses aufpolieren, das festangestellte Bühnenpersonal macht Kunst im Rahmen gewerkschaftlich organisierter Tarifverträge und der staatlich finanzierte Platz bleibt warm.
    Die Kunst ist frei, aber nicht frei finanziert durch künstlerische Leistung.
    In den USA gibt es keine "Staatskunst", "Staatsoper", "Stadttheater" und kein Mensch würde behaupten, dass es schlechtere Kunst gibt - im Gegenteil.

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  6. Die Gewalt, die man sich antut, um seiner Liebe treu zu bleiben, ist nicht viel besser als Untreue.
    La Rochefoucauld
    ....und bei mancher Theateraufführung tue ich mir Gewalt an.

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  7. "In der Oper wird gesungen, weil sie nichts zu sagen hat."
    Bonmot. (oder besser Mauvais-mot)

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  8. Die unglücklichselige Elektra singt an ihrem bitteren tödlichen Ende: Wer glücklich ist, wie wir, dem ziemt nur eins: schweigen und tanzen.
    Und Everding sagte: Indem die Oper ihren Wortgebrauch reduziert, sagt sie so viel.
    Ich ergänze: Das überflüssige ist schmerzlich genug. Es kommt darauf an, das richtige zu sagen, nicht wie gewöhnlich eine Ansammlung von haarsträubenden Banalitäten und Stilblüten zu singen.

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  9. In der Musik kommt der Mensch zu sich selbst. "In der Oper transzendiert der Bürger zum Menschen", sagte Adorno.
    Diesen Weg zu "beschreiten und danach zu gestalten, verlangt aber klare Form will man nicht im unbestimmten Gefühl verharren und darin untergehen" meint Everding. Erst dann versteht man Tristan in Erwartung Isoldes "Hör ich das Licht?!"

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