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Sonntag, 25. Mai 2025

Zum Tage: Ein Gedicht

Nationalität

Volkstum und Sprache sind das Jugendland,
Darin die Völker wachsen und gedeihen,
Das Mutterhaus, nach dem sie sehnend schreien,
Wenn sie verschlagen sind auf fremden Strand.

Doch manchmal werden sie zum Gängelband,
Sogar zur Kette um den Hals der Freien;
Dann treiben längst erwachsene Spielereien,
Genarrt von der Tyrannen schlauen Hand.

Hier trenne sich der lang vereinte Strom!
Versiegend schwinde der im alten Staube,
Der andre breche sich ein neues Bette!

Denn einen Pontifex nur fasst der Dom:
Das ist die Freiheit, der polit’sche Glaube,
Der löst und bindet jede Seelenkette.

Gottfried Keller (1819-1890), Schweizer Schriftsteller

9 Kommentare:

  1. Unsere Seele beugt und schmiegt sich gar gerne auf guten Glauben, nach dem Willen und den Meinungen anderer, folgt gar zu gern den Pfaden anderer, folgt gar zu gern, wie eine Gefangene, dem Ansehen derer, die sich ihr als Lehrer und Führer aufdrängen. Man hat uns so sehr ans Gängelband gewöhnt, daß wir des freien Ganges fast entwöhnt sind.

    Michel de Montaigne (1533 - 1592), eigentlich Michel Eyquem, Seigneur de Montaigne, französischer Philosoph und Essayist

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  2. Arthur Schopenhauer25. Mai 2025 um 18:52

    Lesen ist ein bloßes Surrogat des eigenen Denkens. Man lässt dabei seine Gedanken von einem anderen am Gängelbande führen.

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    1. Wer - wie Schopenhauer - nur seinen eigenen Gedanken nachhängt, meint wie er mit 23 alles zu Ende gedacht zu haben.

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    2. Lesen ist die Konfrontation mit anderen Einsichten.

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  3. Heinrich Heine25. Mai 2025 um 18:53

    Was ist aber diese große Aufgabe der Zeit? Es ist die Emanzipation. Nicht bloß die der Irländer, Griechen, Frankfurter Juden, westindischen Schwarzen und dergleichen gedrückten Volkes, sondern es ist die Emanzipation der ganzen Welt, absonderlich Europas, das mündig geworden ist und sich jetzt losreißt vom eisernen Gängelbande der Bevorrechteten, der Aristokratie. Mögen immerhin einige philosophische Renegaten der Freiheit die feinsten Kettenschlüsse schmieden, um uns zu beweisen, daß Millionen Menschen geschaffen sind als Lasttiere einiger Tausend privilegierter Ritter; sie werden uns dennoch nicht davon überzeugen können, so lange sie uns, wie Voltaire sagt, nicht nachweisen, daß jene mit Sätteln auf dem Rücken und diese mit Sporen an den Füßen zur Welt gekommen sind.

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    1. Statt von Aristokraten würde Heine heute von Technokraten reden

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    2. Das Kettenhemd nennt man heute EU

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  4. Volkstum und Sprache sind 'in einem neuen Bette' längst hinweggeschwemmt worden und unwiderbringlich im allgemeinen Meer untergegangen. Man hat Ihnen beim Wegtreiben beifällig zugesehen.
    Je deutlicher sie weg sind, desto eifriger sucht man nach Erinnerungen.
    Es scheint unumgänglich, dass die Liste der zu erinnernden Kulturgüter bald größer ist als unsere Kultur.
    Wann wird endlich der Lukkkeleskäs zum geschützten regionalen Kulturgut erklärt?

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  5. Ein ein anderes Gedicht

    Es ist nur so der Lauf der Welt
    Mir ward als Kind im Mutterhaus,
    Zu aller Zeit, Tag ein, Tag aus,
    Die Ruthe wohl gegeben.
    Und als ich an zu wachsen fing
    Und endlich in die Schule ging,
    Erging es mir noch schlimmer.

    Das Lesen war ein Hauptverdruß,
    Ach! wer's nicht kann und dennoch muß,
    Der lebt ein hartes Leben.
    So ward ich unter Schmerzen groß
    Und hoffte nun ein bess'res Loos,
    Da ging es mir noch schlimmer.

    Wie hat die Sorge mich gepackt!
    Wie hab' ich mich um Geld geplackt!
    Was hat's für Noth gegeben!
    Und als zu Geld ich kommen war,
    Da führt' ein Weib mich zum Altar,
    Da ging es mir noch schlimmer.

    Ich hab's versucht, und hab's verflucht,
    Pantoffeldienst und Kinderzucht
    Und das Gekreisch der Holden.
    O meiner Kindheit stilles Glück,
    Wie wünsch' ich dich jetzt fromm zurück!
    Die Ruthe war ja golden!

    Adelbert von Chamisso (1781 - 1838), eigentlich Louis Charles-Adélaïde de Chamisso de Boncourt, deutsch-französischer Dichter und Naturforscher

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