1972: „Ich glaube nicht an politische Bewegungen. Ich halte sie für sehr gefährlich, psychologisch eher als politisch. Weil jede politische Bewegung ein Mittel ist, die persönliche Verantwortung für das, was geschieht, zu umgehen. Weil derjenige, der nach außen das Böse bekämpft, sich automatisch mit dem Guten identifiziert und sich für einen Träger des Guten zu halten beginnt.“
Jossif Brodskij (1940-1996), Literaturnobelpreisträger, 1972 zur „Ausreise“ eingeladener russischer Dichter, in einer Schrift anlässlich seiner Ankunft in den USA[1]
Demokratie als Pandemie-Ersatz
Was man kritisiert, sollte man auch loben. Ich gebe zu, dass mir das auf der Titelseite der „journalistin“ angekündigte Interview sehr gefallen hat: Benjamin Piel (*1984), seit Januar 2025 Chefredakteur des Bremer „Weser Kurier“ wurde da befragt. Und da lese ich auf eine angenehme, nicht moralisierende Weise (und ohne einen Hauch von „darüber“) über all die Tugenden, die bei uns Journalisten in unserem Tun vorausgesetzt werden. Alles Selbstverständlichkeiten, auf eine Weise dargestellt, dass ich mich an all das erinnern konnte, was vor mehr als einem halben Jahrhundert mir mein Volontärsvater beigebracht hat. Ich fühlte mich bei der Lektüre zuhause. Hier wurde mir eine Meinung präsentiert, der ich widersprechen kann, ohne moralisch verurteilt und verdammt zu werden. Ich bin bei der Lektüre innerlich gerne auf seine Argumente eingegangen. Und das Ganze war das, was es ist: ein Interview. Nicht mehr. Nicht weniger. Elegant und zurückhaltend geführt von Catalina Schröder. Danke.
Piel distanzierte sich hier vor allem Aktivismus. „Wir sind
eben keine Aktivisten“, sagt er – allerdings mit einer Ausnahme: „Wenn es um
Demokratie geht, haben wir Journalisten eine gesellschaftliche Aufgabe und sind
irgendwie auch Demokratieaktivisten.“
Und dass dies die Haltung meines Berufsstandes ist, durfte ich am 2. Mai 2025 in meiner Zeitung für Deutschland, in der F.A.Z., lesen. Dort inseriert der „journalist“ eine Viertelseite mit der plakativen Aussage: „Freie Medien. Starke Meinung. Unsere Verantwortung.“ Wunderbar. Eine „Initiative“ sei dies, die unterstützt wird von 47 Angehörigen der deutschen Medienlandschaft. Darunter auch vom „Weserkurier“ – und natürlich vom Deutschen Journalisten-Verband, dem Herausgeber des „journalist“ oder der „journalistin“.
Aktivist zu sein, bedeutet in Deutschland, sich moralisch zu brüsten und zu erhöhen – und auf diese Weise Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, also dem Wert zu huldigen, der sich so schnell verbraucht, dass er ständig nach Nachschub schreit. So giert alles schon nach dem nächsten Skandal, nach der nächsten Sensation, die in ihrer Verwerflichkeit oder in ihrer Bedeutung dazu dient, einen selbst wieder über alle anderen zu erheben. Starke Medien. „Halten wir die Gesellschaft zusammen!“, heißt es in einer fett und farbig hervorgehobenen Zeile in der Anzeige. Wir – im Auftrag des Ganzen
***
Wie stark wir sind, haben wir, die Medien, zu unserer eigenen Überraschung zuletzt während der Pandemie erfahren. Da standen wir im Dienst einer Politik, die jeden von uns vor jedem von uns zu schützen hatte. Plötzlich war das „Krankheitssystem das Ganze der Gesellschaft, und zwar das Krankheitssystem in seiner extremsten Form als totale Institution, also als Intensivmedizin, die das Individuum in der Gesamtheit seiner Lebensvollzüge steuert und in dieser Form der Letztbedeutsamkeit des Individuums Rechnung trägt“, schrieb am 7. April 2020 der Soziologe und Luhmann-Nachfolger Rudolf Stichweh in der FAZ, die übrigens zwar die obige Anzeige veröffentlichte, aber namentlich in ihr nicht als Unterstützer aufgeführt ist.[2]
Ohne Zweifel: Die Medien waren mit all ihren Erscheinungsformen in der Corona-Zeit die wichtigste Informationsquelle geworden. Sie standen für unbedingte Verlässlichkeit – ein berauschendes Erlebnis nach Jahrzehnten selbstverschuldeten Niedergangs. Endlich wurden wir wieder ernst genommen!
Und irgendwie – so will mir scheinen – hätten wir diese triumphale Erfahrung gerne noch einmal. Natürlich ohne Corona. Unmittelbar. Ohne im Dienste eines Krankheitssystems. Im Dienst der Demokratie. Diese bildet inzwischen ein weites Feld. Wie für uns gemacht. Das sollte uns eigentlich stutzig machen.
So hast Du das Gefühl, dass sich einer wie dieser Benjamin Piel damit schwertäte, wenn er merken würde, für was er da in dem Fachmagazin heimlich herhalten soll. Denn die unterschwellige Botschaft dieses von Mitgliedsbeiträgen bezahlten Magazins ist vordergründig harmlos:
Hier bin ich, der „journalist“, die „journalistin“, Mensch, hier kann ich‘s sein – über alle KI hinweg. Auf der Titelseite. Der Mensch als Titelheld, als Souverän. Für Piel sind „Menschen heute notwendiger denn je“, Menschen, „die recherchieren, was stimmt und was nicht. In einer Zeit der Verwirrung braucht es Journalisten. Sie werden immer eine Zukunft haben“, meint Piel. Aber viel mehr als Zukunft haben sie auch nicht…
Als es noch keine KI gab, hatte das Fachblatt es nicht nötig, die besondere Bedeutung des Menschen herauszustellen. Da war es eine Selbstverständlichkeit. Aber je unbedeutender der Journalist wurde, desto bedeutender ward er in meinem Fachmagazin als Titelheld. Um das zu unterstreichen findet das Gesicht von Seite 1 sogar seine Fortsetzung im Innenteil, wo die Titelhelden stets in fotografisch sorgsam belichteten Feinst-Räumen ganzseitig posieren. Sehr künstlich, aber fotografisch künstlerisch. Natürlich wirkt es nicht. Konstruiert.
So unterläuft die Inszenierung des Interviews mit Benjamin Piel eigentlich dessen Inhalt. Du fragst Dich, warum hat dieser Journalist es nötig, sich so darstellen zu lassen. Und warum deutet er so besonders auf die Rolle des Journalisten als Demokratie-Aktivisten hin – auf dessen Bedeutung für das Ganze, für die Demokratie? Wollen wir uns in ihrem Namen unentbehrlich machen? Dass man unabhängig und überparteilich sei, kenne ich als verlegerische Richtlinie. Das genügte bislang als Voraussetzung. Aktivismus war eher verpönt – in jede Richtung. Gute Medien verzichten darauf, was nicht heißen soll, dass sie auf einen anregenden Meinungsaustausch verzichten. Aber sie machen keine Kampagnen. Die sind ohnehin Zeichen von Schwäche und verhindern eher Pluralismus.
1926: „In den wachsenden Kollektiven erfolgt die Zertrümmerung der Person. Sie fällt in Teile, sie verliert den Atem. Sie geht über in anderes, sie ist namenlos, sie hat kein Antlitz mehr, sie flieht aus ihrer Ausdehnung in ihre kleinste Größe – aus ihrer Entbehrlichkeit in das Nichts; aber in ihrer kleinsten Größe erkennt sie tiefatmend übergegangen ihre neue und eigentliche Unentbehrlichkeit im Ganzen.“
Bert Brecht (1898-1956), deutscher Dichter in seinen „marxistischen Studien“
Natürlich sind wir, die Journalisten, der Gesellschaft gegenüber verpflichtet, dem Bürger. Mehr aber auch nicht. Und wir, die Journalisten, tun dies – selbstverständlich – als Demokraten, schon wegen dieser Verpflichtung gegenüber dem Bürger. Und das ist ein gutes Modell, dem – das ist zu spüren – dieser Benjamin Piel sofort zustimmen würde. Aber es ist offenbar kein gutes Geschäftsmodell, weil es kaum Geld bringt und den Journalismus in Richtung Ehrenamt drängt, was Piel übrigens ablehnt. Unsere Wirtschaft ist viel zu schwach und eigentlich nur an PR interessiert, die allerdings durch KI sofort ersetzt werden könnte.
Die Alternative? „Wir wissen nicht, wo wir in zehn Jahren sein werden, welche Medien wir auf welche Weise bespielen werden“, sagt er. Bespielen? Als hätten wir etwas zu bespielen! Wir sind es, die bespielt werden. „Wir sind mitten in einer Revolution, das ist historisch“, meint er weiter. Aber die – so wissen wir seit Büchner – frisst nun einmal ihre Kinder. Das ist nicht historisch. Das ist aktuell. Wir werden gerade gefressen.
Deshalb suchen wir, ganz verschämt, die Nähe zum Staat. Und bei dieser Annäherung kommt uns die Bedrohung von rechts gerade recht.
***
Inzwischen meinen wir, die Demokratie gegenüber den Bürgern verteidigen zu müssen, und wir schielen gleichzeitig nach der Unterstützung durch den Staat. Der soll mehr und mehr Teil des Geschäftsmodells werden. Selbst der Chefredakteur des Weserkuriers würde eine gänzliche Befreiung von der Mehrwertsteuer begrüßen, die ja bereits mit sieben Prozent bereits ermäßigt ist. Auch eine Zustellförderung würde er ertragen, um denen noch „ein journalistisches Produkt zukommen zu lassen“, die sich nicht digital bespielen lassen wollen. Würde dies zu einer Senkung der Abogebühren führen oder nur den Ertrag steigern?
(Ich würde übrigens zu den Print-Kunden gehören, weil ich ohnehin schon den ganzen übrigen Tag vor dem flachen Bildschirm hocke und wenigstens beim Frühstück den Kopf gerne hinter einer klugen Zeitung verstecke, die mir in der Regel sehr dezent ihre Aufmerksamkeit widmet. Hier bin ich Bürger, hier mag ich es sein.)
Nicht der Wechsel des Mediums – von Papier auf Digital – ist die eigentliche Transformation, die wir als Leser & Bürger zu leisten haben, sondern der Wechsel des Begriffs Gesellschaft, mit dem wir in Wahrheit konfrontiert werden. Und – so mein Argwohn – ist uns selbst, den Journalisten, dies gar nicht bewusst. Vielleicht ist sogar alles so ausgerichtet, dass uns dies gar nicht bewusst werden kann, angesichts der aufgestauten Komplexität. Man könnte – wenn es nicht gerade wieder in den lauten Hals der Empörung geraten würde – von einer Verschwörung sprechen. Von einer Verschwörung ohne Verschwörer. Der gute, alte „preußische“ Schwabe namens Hegel würde wahrscheinlich vom Weltgeist reden, der da wirkt. Übrigens genau Hegels Verständnis von Gesellschaft wird momentan suspendiert. Und wie das geschieht, dazu findet sich im April-Heft meiner Berufslektüre ein wunderbares Beispiel. Davon mehr im dritten Teil.
Tragt Bärte, tragt Bärte! […] Ist etwa Suggestiv-Journalistenvolk unter uns?
AntwortenLöschenFrei nach „Das Leben des Brian“
Mir ist vor allem aufgefallen, wer ins der Anzeige
LöschenFreie Medien. Starke Demokratie. Unsere Verantwortung
nicht mitgemacht hat.
Beim Nachdenken über die Headline sind mir dann doch Zweifel gekommen. Aber das ist eine andere Geschichte.
....das mit dem Bart hat doch Herr Vollmer längst befolgt....
LöschenAlways look at the bright side of life
LöschenZu Aktivist:
AntwortenLöschenDas hieß früher mal treffender Propagandist.
Das war sogar mal eine Berufsbezeichnung für Leute, die am Eingang von Kaufhäusern standen und Rettichhobel, Silberputzpaste und ähnliches Zeug lautstark verkauften und nach Tagen weiterzogen.
Dieses Bild fällt mir auch immer ein, wenn ich diese Aktivisten/ Propagandisten von Talkshow zu Talkshow ziehen sehe.
(Sie haben einen vergleichbaren Redefluss und scheinen von ihrem 'Produkt' auf bibelhafte Weise überzeugt zu sein. )
Je unwichtiger Journalisten werden, desto wichtiger nehmen sie sich.
AntwortenLöschenSehr, sehr wahr - sie tun dies in einem Maße, dass man sich selbst ganz klein vorkommt. Trotz Bart.
LöschenStimmt. Seit meinem 16. Lebensjahr - erst nur Schnurbart (zu mehr reichte es noch nicht), dann zeitlebens, mit ganz wenigen Pausen, mit Kinnbart. Bis heute. Nur ist dieser sehr, sehr grau geworden.
AntwortenLöschenWenn die Philosophie ihr Grau in Grau malt, dann ist eine Gestalt des Lebens alt geworden, und mit Grau in Grau läßt sie sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen; die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug.
AntwortenLöschenGeorg Wilhelm Friedrich Hegel
Übermäßige Kleidung verhindert die Bewegungen des Körpers; Reichtum verhindert die Bewegungen der Seele.
AntwortenLöschenDemophilos (Lebensdaten unbekannt), altgriechischer Dichter, Verfasser von pythagoreischen Sinnsprüchen
Bekanntlich ist niemand selbstkritischer als wir Medienmenschen.
AntwortenLöschenDie SZ in ihrem Streiflicht am Montag.
Sarkasmus, Hellsicht, Einsicht?
Oder das Gegenteil?
Selbstbeweihräucherung?
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