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Montag, 24. Juni 2024

Gedankenexperimente aus tausend und einer Seite (Teil 50) (Der Staat und wir)

 „Wir sind in der Welt, aber haben die Welt als Ganzes nie zum Gegenstand“

Karl Jaspers (1883-1969), deutscher Philosoph

Paradigma Pandemie

 Von Raimund Vollmer

Wie die Uhr, die künstlich über unsere Zeit bestimmt und alles, was geschieht in ihr Korsett zwängt, so beraubt uns die Maske der Individualität. Was das bedeutet, wissen wir seit Corona. Wir liefen alle synchron. „Besonders in urbanen Gesellschaften werden Uhren in einer Weise hergestellt, die an die Herstellung und Verwendung von Masken in vielen prä-urbanen Gesellschaften erinnert: Man weiß, dass sie von Menschen gemacht sind, aber sie werden erlebt, als ob sie eine außermenschliche Existenz repräsentierten. Masken erscheinen uns als Verkörperungen von Geistern. Uhren erscheinen als Verkörperungen der ‚Zeit‘“, schrieb 1984 der deutsch-britische Soziologe Norbert Elias (1897-1990). [1] Wir begegnen uns nur noch als Geister, die von mächtigen, unsichtbaren Uhrwerken, den Apps, überwacht werden. Und während wir uns hinter den Mundschutzmasken sicher fühlten, wurden wir längst nach Strich und Faden abgetastet und umgestaltet. 

Kleider machen Beute, möchte man rufen. Doch es ist ein seltsamer Fang. Denn das, was die Sozialen Medien und Suchmaschinen finden, ist zwar genau das, was sie suchen. Aber sie haben das Ergebnis selbst produziert. Es sind ihre eigenen Wünsche. Ihre Algorithmen sind reine Formeln der Selbstbestätigung, Hersteller von Pseudoordnungen. Wir können auch als Chatbots weiterleben.Die Systeme glauben, unsere Antworten bereits zu kennen, bevor sie diese uns gestellt haben.

Uns, die sie suchen, gibt es nur noch als kümmerliche Einzelwesen, als binären Code, wir haben uns in Zahlen aufgelöst, in etwas Nichts. „Eine Gesellschaft, die endlos fragmentiert ist, ohne Gedächtnis und ohne Solidarität, eine Gesellschaft, die ihre Einheit nur in der Abfolge von Bildern wiedergewinnt, die ihr die Medien allwöchentlich zurückgeben. Es ist eine Gesellschaft ohne Bürger und letztlich eine Nicht–Gesellschaft“, schrieb 1993 der französische Politologe und Diplomat Jean–Marie Guéhenno (1949*) in seinem Buch „Das Ende der Demokratie“. [2]   

Bald sind wir nur noch "Stoffwesen" (Bloch). Denn die Digitalisierung erobert unsere Klamotten. Mit Abermilliarden von Chips wollen die Hersteller der Hochtechnologien unsere Kleider ausstatten. Ein Riesenmarkt. Sie rücken uns auf den Pelz, gehen unter unsere Haut. Und die kleinen Dinger werden uns mit allen möglichen Lustbarkeiten versorgen, mit Musik und Kommunikation, mit Apps aller Art, stets verbunden mit der Cloud, die uns unsere Wünsche von den Lippen abhört. Es ist die Totaldigitalisierung des Menschen, die Tötung des Ichs. Aus Stoffdenkern werden Stofflenker und Stoffpuppen. Und doch wird das nicht funktionieren. Denn die Lenker fallen am Ende auf ihre eigenen Ziele herein, sie sehen nur das, was sie sehen wollen. Das ist unsere Hoffnung.

Um uns zu chippen, braucht’s keinen Impfstoff, wie die „Querdenker“ befürchten. Das geht viel bequemer, viel heimlicher. Wir haben die Nanos demnächst in den Klamotten. Seit zwei Jahrzehnten wird kräftig daran herumgeschneidert. Das kommt. Alle Dinge werden elektronisch belebt.[3] Man braucht uns nicht mehr – persönlich. Vielleicht will man uns auch gar nicht mehr. Wir haben lange genug gestört.

 Ja, diese „Vernunft, die den einzelnen doch immer nur, unter dem Versprechen ihn zu erlösen, in die Fesseln der Realität zurückzwingt“, schrieb 1994 der Schriftsteller Hartmut Lange (*1937), ist alles andere als unser Retter.[4] In ihrem „Übermut“ glaubt sie, „ohne Götter auskommen“ zu können. Doch wozu hat uns das geführt? Zu „einem genormten Einerlei“, einer „konsumorientierten Lebensarmut“, möchte man mit den an anderer Stelle gefassten Worten des Schriftstellers antworten.[5]

 

16 Kommentare:

  1. Gut gefrühstückt, spürt man den ganzen Tag. Gut geschlachtet, das ganze Jahr. Gut geheiratet, das ganze Leben.
    Deutsches Sprichwort

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    1. ...und doppelt lange spürt man, wenn man schlecht geheiratet hat.

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  2. Man will nicht uns, sondern nur unser Geld 💰

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  3. Der Geist bewegt die ganze Welt.
    Vergil (70 v. Chr. - 19 n. Chr.), römischer Epiker

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    1. Weil so wenig Geist ist, bewegt sich in der Welt kaum noch etwas.

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    2. Precht reicht nicht, Sloterdijk hört man immer weniger und mir hört sowieso niemand zu.

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    3. Sehr gefallen mir auch die Geistig-Armen; Sie fördern den Schlaf. Selig sind die, sonderlich wenn man ihnen immer Recht gibt.
      Friedrich Nietzsche
      Die Reden Zarathustras

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    4. O diese Guten! Gute Menschen reden wir die Wahrheit; für den Geist ist solchermaßen gut sein eine Krankheit.
      Friedrich Nietzsche

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    5. .....reden n i e die Wahrheit

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  4. „Der Staat bin ich!“
    König Ludwig XIV. (1638–1715)

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  5. Hallo Meister Jasper, die Welt uns aber auch nicht!

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  6. Die Uhr ist ein Zeitmesser, weiter nichts!
    Warum wird sie immer wieder symbolisiert, verklärt, psychologisiert.
    Wir stehen ja auch nicht beim Metzger und fangen mit ihm zu philosophieren an, was die Waage ist, wenn sie sich ein Kilo Faschiertes auflädt. Und was all die Waagen fühlen, wenn sie sich unentwegt die menschlichen Übergewichte aufladen.

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  7. Zehn Wahrheiten musst du des Tages finden; sonst suchst du noch des Nachts nach Wahrheit, und deine Seele bleibt hungrig.
    Friedrich Nietzsche. Also sprach Zarathustra - Von den Lehrstühlen der Tugend

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  8. Die Waage ist ein Depressionsmesser.
    Unbekannt, meint wohl die Personenwaage

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  9. "Die Uhr kann stehenbleiben, die Zeit geht weiter."
    Sorbisches Sprichwort

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