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Sonntag, 26. Mai 2024

Gedankenexperimente aus tausend und einer Seite (Teil 41) (Der Staat und wir)

2007: »Wir betreten ein Zeitalter der Irrationalität und der Rückkehr in die Phantasie.«

François-Henri Pinault (*1962),
französischer Unternehmer von Luxusgütern

 

 

Die Maske

Von Raimund Vollmer 

 

Seit Corona wissen wir: Wir, das Volk, sind nur noch Person, was im Lateinischen das Wort für Maske ist: persona. 189 Millionen Antworten hat Google für uns parat, wenn wir die deutsche Vokabel „Maske“ in den Suchschlitz eingeben. Etwa doppelt so viele Antworten wie es Bürger gibt im deutschsprachigen Raum. „Mich nerven Masken auch“, sagte der deutsche Gesundheitsminister Jens Spahn (*1980). Auf einen Jahresverbrauch von acht bis zwölf Milliarden schätzte sein damaliger Kabinettskollege, Wirtschaftsminister Peter Altmaier (*1958), den Bedarf an Mundschutzmasken.

Die Maske war unsere erste Waffe gegen das Virus. Ein Stück Stoff, Gewebe. Mehr nicht. Nein, viel mehr. Es war der Philosoph Robert Spaemann (1927-2018), der den Begriff der Person von seiner ursprünglichen Bedeutung her aufgriff: als Maske. Durch sie sprach im antiken Theater der Schauspieler – fast schon ein doppeltes Spiel. Wir sind in der Lage, uns gleichsam hinter uns selbst zu stellen: „Wir bewerten nicht nur die Dinge entsprechend unseren Wünschen, sondern bewerten unsere Wünsche“ – eine Eigenschaft, die uns zu Menschen macht, die zudem nur schwer zu knacken ist.[1] Selbst von den schlauesten Algorithmen nicht. Sie errechnen zwar die Dinge, die wir uns wünschen, aber nicht unsere Wünsche. So nehmen nicht nur die Digitalkonzerne, sondern auch der Staat die Maske, also die Person, für das Ganze, das sie aber nicht ist. Was sie vorfinden, ist immer nur die Anpassung. Und auf die zielt alles.

Es ist der österreichische Psychoanalytiker Otto Rank (1884-1939), der uns hier einen wichtigen Hinweis geben kann. Er war einer der frühesten Schüler Sigmund Freuds, mit dem er sich aber später überwarf. Er „steht in der Geschichte der Psychoanalyse an herausragender Stelle“, meinte einmal das deutsche Ärzteblatt.[2] Rank sah den „Durchschnittsmenschen“ als jemanden, der in der trügerischen Einheit kollektiver Ordnungen lebt, die sich „im Grunde genommen längst als brüchig entpuppt hat, sondern er weigert sich, sich als Individuum anzunehmen und anzuerkennen. Die Notwendigkeit der Vereinzelung, die Rank wie Hegel als im geschichtlichen Ablauf begründet sieht, wird von dem ‚Durchschnittsmenschen` verdrängt“, schrieb der deutsche Psychiater Dieter Wyss (1923–1994), in einer Würdigung des Werkes von Otto Rank. Dieser Durchschnittsmensch lebt in einer Sphäre, die genau dem entspricht, was die Digitalkonzerne in ihre Algorithmen umrechnen können, die aber eigentlich nicht sein Leben sind. Wyss: „So kommt es, dass dieser nur Rollen spielt, in denen er glaubt, er selber zu sein, er will stets scheinen aber nicht sein. Er bewegt sich in einer Welt täuschender und verlogener Pseudoordnungen.“ [3] Es sind die Sphären von Social Media. Er ist letztlich seiner Individualität beraubt. Er ist reif für die Übernahme durch die Digitalkonzerne – und den Staat.

In der Folge wähnt sich besonders der Staat dort, wo er aus innerem Drang schon immer hin wollte. Ganz nah bei uns. So wird der Staat zum „Stoffdenker“, möchte man mit Ernst Bloch (1885–1977), dem großen Philosophen der Hoffnung, sagen.[4] Der Staat umhüllt uns mit Pseudoordnungen. Sie sind seine Maske, mit der er sich vor allem vor uns schützt. So trifft Maske auf Maske, Stoff auf Stoff. Und doch sind diese Masken eben nur das: Pseudoordnungen.

Bloch wollte mit dem Begriff des Stoffdenkers an den griechischen Hylozoismus erinnern, an die Annahme, dass alle Dinge belebt seien. Und weil der Staat, die Wirtschaft und all die anderen Institutionen und Systeme nicht an uns, die Menschen hinter der Maske, herankommen, erklären sie – trickreich wie sie sind – diese für belebt. Das genügt ihnen. Sie verpassen uns einen Maulkorb, nehmen uns allen Biss. Aber sie lassen uns wenigstens leben. Sie begnügen sich mit dem Äußeren. 

Als Lohn für unsere Fügsamkeit erhielten wir, die wir das Untote, das Virus, in uns truagen, den Impf-Stoff, der uns die Rettung brachte. Weil doppelt genäht besser hält, wurde uns der kostbare Stoff gleich zweimal, dreimal verabreicht. Mehr noch: Der Staat, der Stoffdenker, gab uns sogar das Geld, die notwendigen ‚Lappen‘, damit wir überlebten. Abermilliarden von Euros pumpte er in unsere Taschen. Er ließ sich nicht lumpen. So lieferte er uns all den Stoff, den wir brauchten. Wir nahmen ihn dankend an – und merkten nicht, wie wir ganz langsam eingeschnürt wurden. Wir ließen uns in eine Zwangsjacke stecken, verloren unsere Individualität.

Der Staat und wir wurden eins. So möchte man frei nach William Shakespeare fabulieren: Wir sind nun der Stoff, aus dem die Systeme sind, und unser kurzes Leben ist eingebettet in einen langen Datenstrom, der an uns permanent Maß nimmt und Maß gibt. Aus uns kann man alles herausholen. Und doch lehrt uns diese Maske auch, wie wir uns vor diesem Zugriff schützen können. Denn: „Die Maske ist eben das, was sich nicht verwandelt, unverwechselbar und dauernd, ein Bleibendes im immer wechselnden Spiel der Verwandlung“, schreibt Elias Canetti (1905–1994), bulgarisch-britischer Literaturnobelpreisträger deutscher Sprache.[1] Während wir dem Staat immer dasselbe Antlitz zeigen, die Tat-Sachen, genießen wir die Freiheit der Verwandlung. Wir entschlüpfen ihm, ohne dass er dies merkt. Er hält nur eine Hülle in der Hand. Aber genau das – diese Verwandlung – müssen wir auch leisten. Das verlangt, dass wir letzten Endes alle Künstler werden, unsere Kreativität einbringen. Es ist der große Gegenentwurf: „In der künstlerischen Schöpfung steht das Ich in tiefstem Gegensatz zur Welt und ihren Gesetzen, will es doch diese Welt seinem künstlerischem Willen unterwerfen“, schreibt Dyss über Rank. Hinter der Maske sind wir alle ganz anders, wenn wir nur wollen. Da ist die Welt mit uns. Ohne Pseudoordnungen. Da sind wir bei uns selbst.

Der französische Soziologe Alain Touraine (*1925) hat es Ende des vergangenen Jahrhunderts geahnt: „Wir können nicht mehr von der Existenz einer um politische Institutionen organisierten Gesellschaft ausgehen“, schrieb er, der einst den Begriff der postindustriellen Gesellschaft ersann. „Macht ist überall und nirgends“, sagt er weiter. So aber sind auch wir. Wir sind überall und nirgends. Die Maske ist unsere Tarnkappe. Sie ist alles, was wir haben. Canetti: „Mit ihr beginnt und mit ihr steht und fällt das Drama“. Das gilt insbesondere für die Digitalisierung, die uns jeder Maske berauben möchte – und doch, je näher sie an uns heranrückt, desto undurchdringlicher werden unsere Masken. So erfüllt sich auf geradezu unheimlich Weise das, was Michel Foucalt bereits 1978 formulierte: „Die Menschen treten ständig in einen Prozess ein, der sie als Objekte konstituiert und sie dabei gleichzeitig verschiebt, verformt, verwandelt – und der sie als Subjekt umgestaltet“. [2] Und zwar derart umgestaltet, dass das Subjekt gar nicht mehr zum Vorschein kommt. Wir verschwinden hinter unserem Gesichtsvorhang. Wenn es gut läuft, sind wir Künstler. Wenn es schlecht läuft, sind wir nichts als leere Hüllen, gespenstische Gestalten.


9 Kommentare:

  1. Weh dir, dass du geboren bist!
    Das große Narrenhaus der Welt,
    Erwartet dich zu deiner Qual.
    Geburtslied
    Christian Ewald von Kleist
    1715 - 1759. Dichter

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  2. "Der Mensch irrt ebba!
    Do kannsch nex mache!
    Hauptsach' er isch ned bleed."
    --
    Allmächd', d'r Mensch errd hald!
    Ond no?
    Haubtsach' er is ned debberd!"
    Nachrichten aus dem Diesseits - Botschaften von innen
    München 1982

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  3. Foucalt hat recht. Ich fühle mich schon ganz deformiert.
    Das war bei mir aber weder Digitalisierung noch Maske.
    Ich habe zu viele Lebensratgeber gelesen.
    Durch zu viel "Sorge dich nicht, spute!" und "Der Weg zu dir!" habe ich meinen eigenen Kompass verloren und bin in der Achtsamkeit anderer gefangen.

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  4. Fände der gute Mensch nur immer das Gute: o wie würde er sich gleichbleiben. - Aber im Kampfe gegen das Böse wird er sich selber unkenntlich und am Ende selber zu diesem und sich unähnlich.
    Jean Paul. * 1763
    Aphorismen Bemerkungen über närrische Menschen

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  5. Der Weise ist mit wenigem zufrieden.
    Diogenes

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  6. Einigkeit und Recht und Freiheit sind des Glückes Unterpfand

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  7. Glüh' im Glanze dieses Glückes,
    Glühe, deutsches Vaterland!
    Sarah Connor

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  8. Wo a Wiaschtenei gwä isch, do legsch du Grond, wo mer druff baua ko.
    Ond du bisch oiner, von dem d Leit saget: Der mauert d Lucka zua, der hält d Weg eba, daß oim wohl tuat do, wo mer drhoim isch.
    Thaddäus Troll Jesaija 58,12
    Die Verheißung
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  9. Thaddäus Troll: Eine Frau erzählt ihrem Mann: "Du, se saget, s' Pfunderers Aschtrid dät a Kend kriage." - "Dees isch ihr Sach!" - "Se saget aber, dees Kend sei von dir." - "Dees isch mei Sach!" - "Wenn dees wohr isch, gang e en de Necker." - "Dees isch dei Sach!"

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