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Freitag, 17. Mai 2024

Gedankenexperimente aus tausend und einer Seite (Teil 33) HEUTE: DIE BUNDESPUBLIK (11)

„Politik ist heute heute nichts weiter als ein Mittel, in der Welt vorwärtszukommen.“

Samuel Johnson (1709-1784), britischer Autor

 

Anlässlich 75 Jahre Grundgesetz und Gründung der Bundesrepublik

Freiheit ist Unordnung

Von Raimund Vollmer 

 

Selbst unsere Verfassung wird längst wie eine Verordnung gehandhabt. „Die Änderungspraxis lässt eine Tendenz zur Aufblähung des Grundgesetzes erkennen“, meint der deutsche Rechtswissenschaftler Dieter Grimm (*1937), der zwischen 1987 und 1999 Richter am Bundesverfassungsgericht war. „Das betrifft nicht nur die Zahl der Artikel, die um ein Drittel gestiegen ist, sondern auch den Umfang des Textes, der sich verdoppelt hat.“ So würde sich der Artikel 13, der die  Unverletzlichkeit der Wohnung garantiert, „nach der Änderung von 1998 streckenweise wie eine Verwaltungsvorschrift“ lesen. Grimm: „Der Asylartikel 16a ist vierzigmal so lang wie sein Vorgänger.“[1]

Wo auch nur ein Hauch von Unordnung droht, schlagen die Paragraphen sofort unerbittlich zu. Die Folge, so meinte im August 2019 mit Blick über Deutschland hinaus der ‚Economist‘, sei, dass die „Regierungen praktisch nichts mehr von Bedeutung tun können“.[2] Sie hätten sich selbst in eine Pattsituation hineinmanövriert, zumal gleichzeitig die Zustimmung durch das Volk schwindet. Da kann man schon einmal argwöhnen: Die Gesetze und Verordnungen  schützen nicht mehr das Volk, sondern den Staat und deren Beamtenschaft.

Konnten die beiden großen Parteien – nicht nur in Deutschland, sondern auch in Großbritannien und Spanien – in der Nachkriegszeit noch 80 bis 90 Prozent der Wähler auf sich vereinigen, schrumpfe ihr gemeinsamer Anteil auf weniger als zwei Drittel. „Bei der Bundestagswahl 1976 hatten CDU und SPD zusammen 91 Prozent, bei der ersten gesamtdeutschen Wahl 1990 nur noch 77 Prozent“, wies uns 1993 ‚Zeit‘-Herausgeberin Marion Gräfin Dönhoff auf die Erosion der großen Parteien hin.[3] Jetzt schaffen sie, Union und SPD, wenn alles gut geht, 40 Prozent. Zusammen. Union und Grüne, knapp 50 Prozent. Zusammen.

Das wird nicht reichen, so dass das, was der Zukunftsforscher Matthias Horx (*1955) bereits 2003 erwartete, nun jederzeit auch auf Bundesebene eintreten kann: „Spannend wäre doch längst Gelb-Grün oder Schwarz-Grün. Oder ganz andere Spektralfarben.“ Auf Länderebene haben wir ja schon die ein oder andere Spektralfarbe. Die großen Parteien können nicht mehr das ganze Volk zusammenhalten, was zumindest der Vielfalt an Parteien keinen Abbruch tut.

Zur Bundestagswahl 2021 treten 53 Parteien und Gruppierungen an, elf mehr als 2017. Was aber schwindet, sind die Stammwähler, die einstige Machtbasis der Großen. Keiner hat den Mainstream im Griff.

Insgeheim entsteht ein ungeheuerlicher Verdacht: Je weniger Zustimmung für die Großen, desto mehr Regeln im Kleinen. War das nicht schon der Trend der letzten 30 Jahre? Sieht denn da keiner den Zusammenhang! Werden unsere gewählten Regierungen bereits von ihrer eigenen, festangestellten Bürokratie übermannt? Mehr noch: diese Bürokratie ist längst das Opfer ihrer eigenen Verfahren. Sie kann gar nicht anders, als immer mehr Regeln aufzustellen. Das hat schon Züge von Zwangsneurosen – in der Pandemie war dies wunderbar mitanzusehen. Jaspers hat Recht. Die Bürokraten sind besessen von sich selbst.

„Kaum ein Tag vergeht, ohne dass der Ruf nach neuen Verboten, Kontrollen, Vorschriften erklingt und damit die Forderung erhoben wird, die Handlungs- und Entscheidungsfreiheit der Menschen an der einen oder anderen Stelle zu beschneiden. Begründet wird dies stets mit dem Wohl der Bürger“, meinte 2006 Thomas Petersen (*1968), Meinungsforscher am Institut für Demoskopie Allensbach.[4] Millionen von Menschen sind damit beschäftigt, nicht nur diese Regelwerke zu befolgen und anzuwenden, sondern auch über deren Einhaltung zu wachen. Petersen: „Dass eine Gesetzesinitiative mit der Begründung angestoßen wird, sie verschaffe den Menschen mehr Handlungsfreiheit, erlebt man nur selten, dass jemand den Gedanken äußert, die Abschaffung von Freiheiten könne dem Wohl der Menschen schaden, fast nie.“ Freiheit bedeutet Unordnung, Selbstbestimmung statt Weltbestimmung. So aber betreibt die Bürokratie dieses Geschäft. Sie hinterlässt ein heilloses Durcheinander. Sie verwirrt uns so sehr, dass wir schließlich das eigene Denken einstellen. Wir werden zu Objekten ohne eigenes Bewusstsein.

Der als Politiker gescheiterte, aber als Staatsrechtler gefeierte Paul Kirchhoff (*1943) meinte 2007 in seinem Buch ‚Das Gesetz der Hydra‘: „Der Auftrag des Parlaments von heute ist (...) weniger das Entdecken neuer Regelungsbedürfnisse als der Abbau bestehender Gesetze, mehr der Kampf gegen die Normenflut als der Auftrag, die Überfülle noch zu vermehren.“ [5]

Genützt hat‘s wenig.

Die Normenflut schwappt weiterhin über unsere Köpfe hinweg. Das Durchwinken von Paragraphen ist längst das Geschäftsmodell der Parlamente. Sie sind die Grüne Welle der Bürokratie. Das Ergebnis: „Der Bundestag verfügt nicht über ein Übermaß an öffentlichem Ansehen“, meinte der Politikwissenschaftler Hennis. Er fragte sich, ob das Staatsoberhaupt „der Präsident einer parlamentarischen Demokratie oder eines pseudoplebiszitären Parteienstaates“ sei.[6]

Die Antwort kann sich jeder Wähler selbst geben. Allerdings den Präsidenten wählen andere…



20 Kommentare:

  1. Wir Deutschen haben immer was zu meckern. Sonst wären wir keine Deutschen!
    Rainer "Galli" Calmund

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    1. ....und Calmund war ein besonders eifriger Deutscher...

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  2. Ist die eigne Person in Ordnung, so kommt die Familie in Ordnung; ist die Familie in Ordnung, so kommt der Staat in Ordnung; ist der Staat in Ordnung, so kommt die Welt in Ordnung.
    Lü Bu We (um 300 - 235 v. Chr. , Freitod im Kerker), chinesischer Kaufmann, Politiker und Philosoph

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    1. Ich habe meine Familie in Ordnung gebracht.
      Der Staat ist aber nicht wie prophezeit in Ordnung gekommen. Im Gegenteil!
      Soll ich nun bei meiner Familie zurück rudern?

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  3. Wie soll der Wähler antworten: bsw, aFd, Enthaltung?

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  4. Präambel

    Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen,
    von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben.
    Die Deutschen in den Ländern Baden-Württemberg, Bayern, Berlin, Brandenburg, Bremen, Hamburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Saarland, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein und Thüringen haben in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands vollendet. Damit gilt dieses Grundgesetz für das gesamte Deutsche Volk.

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  5. Zu Callmund: Noch dürfen wir "meckern"...

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  6. Immerhin - anderswo ist das leider anders!

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  7. „Politik ist heute heute nichts weiter als ein Mittel, in der Welt vorwärtszukommen.“
    》》 .....und weil manche sonst nicht vorwärtskommen, gehen sie in die Politik um vorwärts zu kommen.

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  8. Der Wandel im Stil der Paragraphen zu Verwaltungsvorschriften liegt vor allem daran, dass die initiative Partei ihren Paragraphen normative Fesseln anlegt durch hohe Detailierung, dass später durch Ausführungsbestimmungen, Verwaltungsvorschriften und Rechtsprechung keine Flexibilität aufkommen kann. die Ziele fes Gesetzes zu verwässern.

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  9. Abwarten – das mit dem Staat dauert! Und mit der Welt erst recht...

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  10. Die Gewalt des Grundgesetzes (Präambel), die Gewalt, die vom Volk ausgeht, die Staatsgewalt ...und und und.
    Alles in Deutschland fusst auf Gewalt.
    Klar dass die Welt Angst vor den Deutschen hat und jeder in unserem Land Angst vor dem anderen.

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  11. Heinrich von Kleist über zu hohe Erwartungen:
    Eine besonders wichtige Ursache, uns nur ein mäßiges äußeres Glück zu wünschen, ist, dass dieses sich wirklich am häufigsten in der Welt findet, und wir daher am wenigsten fürchten dürfen getäuscht zu werden.
    - Aufsatz, den sicheren Weg des Glücks zu finden und ungestört - auch unter den größten Drangsalen des Lebens - ihn zu genießen

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  12. Wehe, mein Vaterland, dir!
    Die Leier, zum Ruhm dir, zu schlagen.
    Ist, getreu dir im Schoß,
    mir, deinem Dichter, verwehrt.
    Ders. Die Hermannschlacht

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  13. Gewalt! Gewalt! Wer kann der Gewalt nicht trotzen? Was Gewalt heißt, ist nichts: Verführung ist die wahre Gewalt.
    Gotthold Ephraim Lessing (1729 - 1781)

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  14. Da fragen Sie mal den Gotthold, wer der Gewalt von Putin so leicht trotzen kann.

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  15. Ah, Verführung ist die wahre Gewalt. Jetzt verstehe ich das Me Too Geschrei und die Erinnerung an die Verführung nach 30 Jahren, wenn das Altersgedächtnis die vergangenen Vergnügen der Jugend wieder hochspült.

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  16. Ich hatte keinerlei Unrechtsbewusstsein, ruft der Zeitgenosse. Gewiss - auch Rechtsbewusstsein hat er nie gehabt.
    Johannes Groß Publizist
    FAZ Notizbuch

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