1969:
„Der Begriff Mensch ist ein Doppelbegriff.
Er bezeichnet ein Besonderes und ein
Allgemeines.“
Friedrich Dürrenmatt (1921-1990), Schweizer Schriftsteller in seinem „Monstervortrag über Gerechtigkeit“[1]
Wir stehen darüber
Allmonatlich bekomme ich als Mitglied im DJV (Deutscher
Journalisten Verband) eine Zeitschrift, die sich mal „journalistin“, mal
„journalist“ nennt. Sie ist gut und aufwendig gemacht und hat immer eine
Journalistin oder einen Journalist auf der Titelseite. Sie oder er sagt uns
dann, was wir – wenn wir unseren Beruf ernst nehmen – längst wissen oder uns
selbst denken können. Darum geht es auch gar nicht, sondern das Magazin will
den oder die, den oder die es porträtiert, aus der Menge herausheben. Sie sind
Vorbild. Dabei präsentiert es uns auch gerne Kolleginnen oder Kollegen, die
bereits sehr prominent sind, weil sie z.B. an noch prominenterer Stelle wirken.
Somit bekommt dann die Weisheit ohne Neuigkeitswert wenigstens Persönlichkeit,
und die Macher und Macherinnen des Magazins zeigen uns, dass sie „darüber“
stehen – auch über uns, den kleinen Kollegen am Straßenrand des Ruhms.
1972: „Es gibt heute einen ziemlich umfänglichen Kulturbetrieb des ‚Darüber‘, der die eigentlichen Dinge in den Schatten abdrängt.“
Jossif Brodskij (1940-1996), Literaturnobelpreisträger, 1972 zur „Ausreise“ eingeladener russischer Dichter, in einer Schrift anlässlich seiner Ankunft in den USA[2]
Als sich jetzt bei der Lektüre der neuesten Ausgabe wieder dieses Gefühl eines gewissen Unbehagens einstellte, kramte ich ein paar alte Ausgaben des Magazins aus dem Archiv hervor, um das Neueste mit dem Besseren, sorry, Älteren zu vergleichen. Keine Prominenz auf der Titelseite, das „journalist“ nannte sich auch nur im Untertitel „DAS DEUTSCHE MEDIENMAGAZIN“. So schlicht. So einfach. In Großbuchstaben.
Und heute? „Wie machen wir den Journalismus besser“ hat sich die Mitgliederzeitschrift ein Methoden-Motto in ihrem Untertitel gegeben. Wir Deutschen mögen Fragen nach dem Wie. Da müssen wir uns nicht mehr mit dem Warum herumquälen. Es geht also um Prozesse der Optimierung, um den Journalismus als Methode, um das Tun. Dem müssen sich dann die Täter, die Journalistin oder der Journalist, stellen. Deswegen werden die Titelhelden auch immer mit einer knallharten Frage auf der Titelseite konfrontiert – und zwar ganz persönlich und direkt. Im April heißt es: „Hat lokaler Journalismus eine Zukunft Herr Piel?“ Das klingt provokant, fast schon suggestiv. Da kann man als Lokaljournalist nur mit Ja antworten. Aber…
Denn wir alle wissen, wie schwer das Geschäft geworden ist, seitdem die Anzeigen fehlen und die Leser die Abos kündigen – egal, wie gut der Journalismus ist. Auch dem Berufsstandmagazin, der „journalistin“ oder dem „journalist“, sind die Anzeigen weggebrochen.
Mehr als hundert Seiten hatte Anfang der neunziger Jahre das Magazin, heute sind es etwa die Hälfte. Allein 25 Seiten Rubrikenanzeigen (Stellenangebote, Stellengesuche, Pressestellen) gab es damals, heute habe ich gar keine mehr gefunden. Und inhaltlich, vor allem gestalterisch? Nicht so schön aufgemacht, nur geheftet, keine Klebebindung, im Innern fast nur Schwarz/Weiß plus einer Zusatzfarbe, die Titelseite zwar bunt, aber „menschenleer“. Dafür wurde recht fröhlich und unbekümmert drauflos geschrieben. Durchaus sachlich, aber nicht verbissen. Natürlich wurde noch nicht gegendert – weder mit Sternchen noch mit Doppelpunkten, aber statt Studenten (was im Lateinischen ja bereits Partizip Präsenz ist), gab es schon die Studierenden. Immerhin. Volontierende habe ich nicht gefunden.
Doch die Kernfrage lautet: Haben wir in den vergangenen 35 Jahren, seit der Wiedervereinigung, den Journalismus besser gemacht? Ich gebe zu: Damals hätte ich mir diese Frage überhaupt nicht gestellt. Heute würde ich zögern, sie zu beantworten. Was heißt „würde ich“? Ich zögere…
Manchmal möchte ich das aktuelle Motto durch einen anderen, einen sehr bösen Slogan ersetzen: „Wie machen wir den Narzissmus besser“ oder auch „Wie machen wir den Moralismus besser“ oder gar „Wie machen wir den Aktivismus besser“. Kurzum: Ich mag dieses Gefühl nicht, bei der Lektüre mancher Beiträge moralisch vereinnahmt zu werden. Für mich ist das unjournalistisch. Da vermisse ich oft die Demut vor dem Leser.
So wurde zum Beispiel in einem früheren Heft westdeutschem Kollegen und Kolleginnen von einer ostdeutschen Kollegin unterstellt, dass sie Vaclav Havel nicht kennen. Mag sein. Aber ob diese von ihr festgestellte Ignoranz auch für die ostdeutschen Kollegen und Kolleginnen gilt, wurde erst gar nicht thematisiert. Aber das ist in diesen Zeiten von Google und KI auch nicht mehr relevant. Was wir nicht wissen, können wir jederzeit wissen.
Vielleicht kennen wir bald niemanden mehr, der uns ein bleibendes Vorbild sein könnte, weil wir alles, was wir schreiben, Maschinen überlassen.
1989: „Jedes Wort enthält auch die Person, die es ausspricht, die Situation, in der sie es ausspricht, und den Grund, warum sie es ausspricht.“
Vaclav Havel (1936-2011), tschechischer Schriftsteller und Politiker, in seiner Rede anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, vorgetragen von Maximilian Schell[3]
Havel kam aus einer Zeit, in der das Wort noch an den Menschen gebunden war. Das Wort „ist ein Wunder, dem wir zu verdanken haben, dass wir Menschen sind“, meinte Havel zu einer Zeit, als das Wort Mauern brach und ein Schriftsteller Präsident seines Landes wurde. Inzwischen ist das Wort mit der Künstlichen Intelligenz eine neue Verbindung eingegangen, so mächtig, so stark, dass es uns unserer Identität beraubt. Das Wort wird zu unserer Person – oder besser noch umgekehrt: Wir sind die Maske, die persona, hinter der sich das Wort verbirgt. Das Wort wird uns eingepflanzt. Der Mensch hört auf, ein Doppelbegriff zu sein, weder etwas Besonders noch etwas Allgemeines. Er hört auf, Mensch zu sein.
Wir haben nicht mehr das Wort. Wir sind nur noch Person, nur noch Maske. Wir übergeben unseren Körper der Biotechnologie und den Geist der Maschine. Jetzt fehlt nur noch die Seele. Die aber – so hatte bereits 1955 der Soziologe Helmut Schelsky lapidar behauptet - „wird mitgeliefert“. „Menschlichkeit“ – sagt wiederum Havel – „ist eine Schöpfung Gottes“.[4]
Wir können darauf verzichten. Und die Maschine, unsere Schöpfung, kann ohnehin alles besser. Vielleicht sollte sich unser Magazin umbenennen: Journalismus. Wie macht uns die KI besser.
[1] Friedrich Dürrenmatt, 1969, „Monstervortrag über Gerechtigkeit und Recht nebst einem helvetischen Zwischenspiel“ , Seite 38
[2] Die Zeit, 24. November 1972, Jossif Brodskij: „Blick zurück ohne Zorn“
[3] Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16. Oktober 1989, Vaclav Havel: „Ein Wort über das Wort“
[4] Die Welt, 7. März 2000, Vaclav Havel: „Mensch, Staat und Gott“